Es war höchste Zeit, sich endlich nach Petra umzusehen. Sie versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, was die Freundin anhatte. Es war ja alles so hektisch gewesen vorhin, dass sie nicht darauf geachtet hatte. Suchend schaute sie sich um.
Da näherte sich ein Kellner, jedenfalls nahm sie an, dass es einer war. Er trug keine Uniform sondern eine schwarze Kombination mit blütenweißem Hemd und einer adrett gebundenen Fliege. Sein asiatisch-rundes Gesicht strahlte freundliche Gelassenheit aus. „Ein Platz für Sie, Madam?“
Gerlinde schüttelte den Kopf. „Ich suche meine Freundin. Wir haben uns vor dem Eingang verloren. Es waren so viele Leute…“
Er nickte verstehend und schaute sich nun ebenfalls um, obwohl er natürlich keine Ahnung haben konnte, wie ihre Freundin aussah. Gerlinde musste lächeln. So viel Hilfsbereitschaft und so viel Naivität, erfrischend und gleichzeitig rührend in seiner Sinnlosigkeit! „Ich gehe einfach einmal durch. Irgendwo werde ich sie schon entdecken“, erklärte sie ihm ihren Plan.
Er nickte, machte aber keine Anstalten, ihr von der Seite zu weichen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor ihm an den Reihen der Tische vorbeizugehen. Der Kellner folgte ihr wie ein Schatten, und sie spürte, wie sie Blicke auf sich zog. Es war ihr unangenehm, aber was sollte sie machen? Es konnte ja nicht so schwer sein, Petra aufzuspüren, auch wenn der Raum ziemlich groß war, und es bestimmt mehr als hundert Tische gab.
„Gerlinde!“
Erleichtert drehte sie sich in die Richtung, aus der der Ruf kam. Dass sie ihn über die dezent murmelnde, in der Summe aber trotzdem laute Geräuschkulisse gehört hatte, kam ihr fast wie ein Wunder vor. Da stand Petra und winkte ihr zu. Sie hatte einen Zweiertisch belegt und für sich den Platz auf der Bank gewählt, von dem aus man einen guten Blick in den Raum hatte.
Erleichtert wandte sich Gerlinde an ihren Schatten. „Da ist sie.“ Sie bedankte sich mit einem Lächeln und steuerte auf Petra zu. Aber noch ehe sie nach der Lehne des Stuhls greifen konnte, um ihn unter dem Tisch hervorzuziehen, hielt sie ein schwarzbetuchter Arm zurück.
„Madam?“ Ihr hartnäckiger Schatten rückte das Möbel zurecht und wartete, bis sie darauf Platz genommen hatte. Dann griff er mit einer schwungvollen Bewegung nach der Serviette vor ihr auf dem Tisch. Im Bruchteil einer Sekunde war die kunstvolle Blüte, die jemand in mühevoller Handarbeit gefaltet haben musste, zerstört. Mit leichter Hand wurde die Serviette auf Gerlindes Schoss gelegt.
Starr vor Staunen hatte sie zugeschaut. Wie schade, sie hätte gerne herausgefunden, wie diese Blüte gemacht war, sie langsam auseinandergefaltet und die Technik genau studiert. Eine Speisekarte wurde ihr gereicht, und jemand schenkte Wasser aus einer Karaffe in eines der drei Gläser vor ihr.
Petra weidete sich an ihrem verdutzten Gesichtsausdruck. „Nicht schlecht, gell? Das hat Stil. Daran kann man sich gewöhnen.“
Gerlinde konnte nur den Kopf schütteln. „Das ist ja unglaublich.“
„Hab ich dir zu viel versprochen?“ Petra triumphierte. „Schau erst mal in die Speisekarte. Du kannst alles haben, was du willst. Und wenn du nicht satt bist, kriegste Nachschlag.“
Gespannt schlug sie die Karte auf und stellte fest, dass es zwei verschiedene Menüs mit jeweils fünf Gängen gab. Man konnte auch alles mit einander kombinieren. Die erste Speisenfolge las sich toll, aber die zweite stand ihr in nichts nach und bestand aus leichteren und zum Teil vegetarischen Gerichten. Schon das Lesen der Karte war ein Genuss, auf den sie sich jetzt ganz konzentrierte.
„Wein, Madam?“
Sie hatte den Kellner überhaupt nicht bemerkt, der sich ihr von der Seite genähert hatte. Automatisch nickte sie.
„Weißwein?“, fragte er nach.
„Ja, bitte.“
Petra hatte bereits entschieden, was sie essen wollte. Sie legte die Speisekarte beiseite. „Ich hab einen guten Tisch ergattert, von hier aus kann man alles sehen.“
Das stimmte, jedenfalls was Petras Platz betraf. Gerlinde saß mit dem Rücken zum Raum und hatte als Ausblick nur ihre Tischpartnerin. Und die weinrote Bank, auf der die saß. Sie unterdrückte einen Kommentar. Vielleicht konnten sie ja am nächsten Abend die Plätze wechseln, so dass sie auch einmal in den Genuss kam, dem Ballett der Kellner zuzusehen.
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum, um wenigstens einen kurzen Blick auf den Raum werfen zu können. Viele Tische waren inzwischen besetzt, Petra hatte durchaus Recht gehabt mir ihrer Eile.
Da spürte sie eine Bewegung neben sich. Ein Kellner schenkte ihr Weinglas voll, während sich ein zweiter von der anderen Seite näherte. In der Hand hielt er eine Art Handy bereit und wollte offensichtlich ihre Bestellung entgegennehmen. Vor lauter Schauen und Staunen hatte sie noch nichts ausgewählt. Petra diktierte dem Mann, der eifrig auf seinem Handy herumtippte. Dann schaute er Gerlinde fragend an.
„Für mich dasselbe bitte“, murmelte sie der Einfachheit halber. Wieder markierte er auf seinem Gerät die einzelnen Posten und verschwand dann.
Sofort hob Petra ihr Glas. „Prost! Auf einen schönen Urlaub!“
Der Wein war angenehm kühl, nicht zu trocken und gefährlich süffig.
„Hab ich doch gut gemacht, oder?“ Petra forderte das Lob ein, das ihr sicher auch zustand. Ihr war es schließlich zu verdanken, dass sie hier saßen. Dieses tolle Schiff, die Aussicht auf ein fünfgängiges Abendessen in luxuriöser Umgebung, Gerlinde schüttelte den Kopf. Ach Henry, dachte sie und wusste selbst nicht, ob sie traurig darüber war, dass er das nicht mehr erleben konnte. Oder ob die Freude überwog, weil sie selbst alles genießen konnte, was ihr so überreich geboten wurde.
Verstohlen warf sie einen Blick auf den Nachbartisch, an dem ein älteres Paar saß. Die Art, wie sie sich anschwiegen, zeugte von einer langen Ehe und großer Vertrautheit. Ein Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest, den sie tapfer mit einem weiteren Schluck Wein hinunterspülte. Sentimentalität nützte keinem was, und sie wollte sich doch nicht selbst diesen tollen Abend verderben.
Aber Moment mal, die Gäste kannte sie doch! Ja genau, die beiden hatte sie beim Einschiffen an der Rezeption gesehen. Das feuerrote Haar der Frau schimmerte im weichen Licht. Auch jetzt war sie wieder sehr extravagant gekleidet. Sie trug ein langes Kleid in changierenden Grüntönen. Über ihren Schultern lag eine dunkelblaue Stola mit langen Fransen. Sehr aufrecht saß sie am Tisch, hob ihr Glas und prostete ihrem Mann zu. Die Blicke, die sie austauschten, waren so intensiv, dass es Gerlinde ganz warm wurde. Verlegen schaute sie weg.
Der Kellner ordnete das benötigte Besteck entsprechend den von den Damen gewählten Gängen. Und dann ging es los. Wie im Schlaraffenland wurden die Speisen auf den Tisch gebracht, in zügigem Ablauf, aber doch nicht so schnell, dass man sich gehetzt fühlte. Wie schafften es die Kellner bloß, den Überblick zu behalten? Fasziniert beobachtete Gerlinde, dass auch an einem Vierertisch allen Personen gleichzeitig der nächste Gang serviert wurde.
„Die Küche ist hier unten drunter. Und es gibt eine Rolltreppe für die Kellner, damit es schneller geht“, berichtete Petra. „Hab ich neulich im Fernsehen gesehen, da gab es eine Doku über das Schiff.“
„Ach komm!“ Gerlinde war nicht sicher, ob ihr die Freundin nicht einen gewaltigen Bären aufbinden wollte. Eine Rolltreppe, das wurde ja immer toller! Sie linste zu einer Tür, die sich automatisch öffnete und schloss, und immer wieder Kellner mit einer neuen Ladung hübsch dekorierter Teller ausspie. Aber es war unmöglich zu sehen, was sich dahinter verbarg.
„Schnapsi-Taxi!“, tönte es durch den Raum. Ein Servierwagen, der unter der Last der Flaschen und Gläser fast zusammenbrach, wurde von zwei offensichtlich blendend gelaunten Kellnern vorbeigeschoben. Sie lachten und scherzten mit den Gästen, hielten an, um etwas auszuschenken, und fuhren dann weiter zum nächsten Tisch. Als sie bei dem älteren Paar am Nachbartisch angelangt waren, schaute Gerlinde neugierig hinüber. Die zwei waren mit dem Essen fertig und genossen gerade die letzten Schlucke Wein aus ihren Gläsern. Die redseligen Kellner schienen von der außergewöhnlichen Frau völlig fasziniert zu sein.
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