Sie zuckte zusammen, als jemand eine Hand auf ihren Rücken legte. „Bitte gehen Sie weiter, Madam.“
Das asiatisches Gesicht vor ihr war ernst und konzentriert. Mittlerweile waren sie im Treppenhaus angekommen. Hier stand ein ganzes Spalier von Leuten in orangeroten Warnwesten, die die Passagiere in die richtige Richtung dirigierten. Niemand lächelte. War das tatsächlich nur eine Übung? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ja noch vertäut im Hafen lagen, und sie kam sich sehr dumm vor. Gut, dass Petra nichts von ihrer Hysterie mitbekommen hatte.
Reihe um Reihe füllte sich das Theater mit grellrot bewesteten Passagieren. Das ganz in Weiß gekleidete Personal stach heraus wie Markklößchen in einer Tomatensuppe. Gerlinde schaute sich um. Du meine Güte, es war unfassbar, dass diese Menschenmassen alle auf dem Schiff wohnten. Und dies hier war ja nur eine Musterstation von mehreren, an denen man sich jetzt zeitgleich versammelte.
Aufmerksam lauschte sie den Erläuterungen, die von einem Tonband kamen. Frauen und Kinder zuerst, das galt wohl immer noch in der Seefahrt. Aber sie mochte sich nicht vorstellen, wie es im Ernstfall zugehen würde. Wahrscheinlich würde sie von diesem übergewichtigen Typ, der in der Reihe vor ihr saß und fast anderthalb Sitze einnahm, einfach niedergetrampelt werden.
Petra, die neben ihr saß, seufzte vernehmlich. „Hoffentlich ist das hier bald zu Ende. Ich hatte gehofft, dass wir vor dem Essen noch Zeit für einen Aperitif haben.“
„Aber wir müssen doch nicht um Punkt achtzehn Uhr im Restaurant sein.“ Gerlinde fand es sehr angenehm, ihre Essenszeit selbst wählen zu können.
Petra warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Ach du Unschuldslämmchen! Wenn du später kommst, sind die besten Tische weg. Was glaubst du denn? Die Hardcoreleute stehen schon zehn Minuten früher an, nur damit sie ihren Stammplatz ergattern. Das ist wie früher beim Sommerschlussverkauf vor dem Hertie.“
„Und das jeden Tag?“ Gerlinde war entsetzt. Sie hatte wahrhaftig keine Lust, sich ständig im Kriegszustand zu befinden. Und im Dauerlauf zum Speisesaal zu traben, womöglich noch bei Seegang.
„Nun hab dich nicht so, das kriegen wir schon.“ Petra schob das Kinn vor, ein untrügliches Zeichen von Missbilligung.
Ihre Nachbarn erhoben sich, und Gerlinde schaute sich verwirrt um. Was war jetzt wieder los? Vor lauter Schlussverkauf hatte sie nicht auf die Ansage geachtet. Sie ließ sich mitziehen von der Menschenmenge.
„Legen Sie den rechten Arm auf die linke Schulter Ihres Vordermannes. Bilden Sie eine Reihe und gehen Sie zügig. Den rechten Arm auf die linke Schulter…“ Gebetsmühlenartig wiederholte eine weiß uniformierte Frau am Anfang der Reihe ihre Anweisungen.
Gerlinde wurde es heiß. Rechts – links, das verwechselte sie schon mal gern. Aber schnell stellte sie fest, dass sie mit dem Problem nicht allein war.
Man schob und drängte die Stufen hinauf. Das unterschiedliche Lauftempo der Leute schob die Menschenschlange zusammen und auseinander wie eine Ziehharmonika.
„Bist du noch da?“ fragte Gerlinde nach hinten. Keine Antwort. Sie drehte sich um, aber die Hand, die schwer auf ihrer linken Schulter lag, gehörte nicht zu Petra sondern zu einem mürrisch dreinblickenden, älteren Herren mit Strohhut. Panisch überlegte sie, ob sie ihren kleinen Decksplan eingesteckt hatte, aber sie konnte sich nicht genau erinnern. Jetzt nachschauen kam nicht infrage, sie durfte den Kontakt zum Vordermann nicht abreißen lassen.
Die Polonaise ging hinaus aufs Deck. Wenigstens war hier frische Luft, Gerlinde atmete tief durch. Die Temperatur war immer noch angenehm, obwohl die Sonne fast untergegangen war. Sie riskierte einen Blick auf den Hafen. Der Kai, auf dem es vor kurzem nur so gewimmelt hatte von Passagieren und Ladearbeitern, lag verlassen da. Dahinter bereitete sich La Palma auf den Abend vor. Die Straßenbeleuchtung brannte schon, und sie stellte sich vor, wie die Menschen dort beim Abendessen saßen.
Autsch! Der Strohhut war ihr in die Hacken getreten. Empört drehte sie sich um.
„Sie sind zu langsam, wir verlieren den Anschluss“, kam es knurrig statt einer Entschuldigung.
Endlich war der Sammelplatz erreicht. Gerlinde starrte auf ein Rettungsboot, das hoch über ihnen festgemacht war. Sie mochte sich nicht vorstellen, neben diesem unfreundlichen Kerl auf engstem Raum festzusitzen und womöglich tagelang durch die aufgewühlte See zu treiben. Starr schaute sie geradeaus. Jetzt, da sie eng nebeneinander standen, war ihr der Ausblick auf die Stadt versperrt.
Die nächste Durchsage kam nacheinander auf Deutsch und Englisch. Unruhig wechselte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, die Übung zog sich hin.
Nun wurden die einzelnen Kabinennummern aufgerufen. „Einundachtzigvierzehn?“ Fast hätte sie ihren Einsatz verpasst. Ihr „Hier“ klang leise, während sie gleichzeitig versuchte mitzukriegen, woher Petras Stimme kam. Die Freundin musste irgendwo hinter ihr stehen, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, sich umzudrehen. Die Menschen standen so eng zusammen wie Sardinen in einer Büchse.
„Das ist eine Zumutung, uns hier so lange stehen zu lassen“, beschwerte sich der Mann mit dem Strohhut. „Auf anderen Schiffen dauert so was höchstens zehn Minuten.“
Gerlinde fand die Prozedur auch etwas langatmig, andererseits hieß das aber auch, dass auf diesem Schiff die Sache ernst genommen wurde. Und das wiederum war ein durchaus beruhigender Gedanke.
***
Der junge Offizier war zur Überwachung des vorderen Treppenhauses eingeteilt. Er nahm seine Aufgabe ernst und beobachtete Personal und Passagiere mit Argusaugen. Die Türen zu den Außendecks standen auf, und ein steter Menschenstrom schob sich nach draußen. Nach einer Weile wurde der Andrang kleiner, bis nur noch wenigen Nachzüglern von der bereitstehenden Besatzung der Weg zu den Sammelplätzen gewiesen werden musste. Der Mann schaute auf die Uhr. Sie waren gut in der Zeit, der Kapitän würde zufrieden sein mit ihrer Leistung.
Er warf einen kurzen Blick auf die Checkliste in seiner Hand. Als nächstes musste die Meldung kommen, dass die Kabinen überprüft worden waren, und dass sich keine Passagiere mehr in diesem Bereich befanden. Sein Blick wanderte zu dem jetzt menschenleeren Gang. Da kam bereits die Frau, der diese Aufgabe zugeteilt worden war. Es war eine junge Philippinin, die zügig auf ihn zu schritt. Selbst unter der voluminösen Schwimmweste, die sie wie alle anderen auch tragen musste, konnte man ihre grazile Figur erkennen. Ihr junges, hübsches Gesicht wurde von langen, schwarzen Haaren eingerahmt. Sie wirkte konzentriert und ernst. „Kabinen auf Deck Sieben überprüft. Alles in Ordnung“, meldete sie ihm.
Seine strenge Miene entspannte sich, und er zwinkerte ihr zu. „Gut gemacht, Matrose!“
Sein Lob wurde mit einem strahlenden Lächeln quittiert.
Für einen Moment leuchtete es in seinen Augen auf. Er beugte sich zu ihr hinunter. „Nach dem Essen wie immer?“, flüsterte er.
Sie nickte kaum wahrnehmbar, trat schnell einen Schritt zurück und nahm wieder Haltung an.
Verstohlen schaute er sich um, aber der kleine Dialog war von niemandem bemerkt worden. Er zog ein Funkgerät aus der Tasche seines Hemdes. „Deck Seven clear“, meldete er knapp der Brücke.
„Okay, Roger“, kam prompt die Antwort, überlagert von leisen Störgeräuschen. „Gute Arbeit, Thorsten“, kam es noch hinterher. „Sieht so aus, als habt ihr mal wieder die schnellste Zeit.“ Er lächelte zufrieden und schob das Funkgerät zurück in seine Brusttasche.
***
„Wo hast du bloß so lange gesteckt? Wir müssen sofort los“, empfing Petra Gerlinde in der Kabine.
Die zerrte an der sperrigen Schwimmweste. Endlich bekam sie den Gurt auf und fing an, die Weste ordentlich zusammenzulegen.
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