Da war es, das Gebäude, das er schon vor Stunden erblickt und nun endlich beinahe erreicht hatte. Er konnte es sehen, ein bewundernswertes Stück Architektur mit zeitlosen, klaren Linien, hoch aufragend und schlank, dem Himmel entgegenstrebend. Die Details, die Verzierungen in smaragdgrünen Tönen, die sich überall in diesem Stadtteil finden ließen, fügten eine weiter Komponente hinzu, durchbrachen die steinern-gläserne Fassade mit dem edelsten Farbton der Farbe des Lebens und der Hoffnung. Seltsam, diese Gedanken, die er schon wieder hatte. Er hielt sich nicht für einen Romantiker. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war, dass er schon so gut wie vor den gläsernen Türen des Gebäudes war, das eindeutig ein Hotel sein musste. In seinem Inneren stieß Andy einen Jubelschrei aus, nach außen hin zeigte sein müdes Gesicht immerhin ein Lächeln. Wieder ein kleiner Glücksfall an einem Tag, an dem seit seinem Aufwachen fast alles schief gelaufen war.
Seine Schritte wurden langsamer als seine Gedanken zu einem früheren Verlauf zurückkehrten. Er fragte sich erneut, wie viel von dem, was ihm an diesem einen Tag passiert war, auch Elaine widerfahren war. Sie konnte unmöglich stundenlang durch die Stadt geirrt sein, nachdem sie bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft hier einen Anruf von Zuhause aus getätigt hatte. Doch Andy war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob dieses kurze Telefonat irgendeine Aussagekraft hatte. War es nicht vielleicht sogar so, dass Elaine ihre beste Freundin über ihren Verbleib angelogen hatte? Sollte dies stimmen, wer wusste dann schon, was alles in dieser seltsamen Gegend passiert sein mochte. War es ihr einfach nur peinlich gewesen, dass sie sich verirrt hatte, nicht mehr zurück konnte und in ein Hotel einchecken musste? Hatte jemand sie dazu gezwungen, ihre Freundin anzulügen, damit sie sich keine Sorgen machte? Oder war da eine wesentlich subtilere Form der Manipulation am Werk gewesen, so dass Elaine glaubte, freiwillig zu handeln?
Andy war ein Mensch der felsenfesten Überzeugung, dass das Böse nur durch menschliches Handeln hervorgebracht wurde. Doch inzwischen fragte er sich auch, ob eine Stadt nicht genauso ein Ungeheuer sein konnte. Konnte eine Stadt einen Menschen zugrunde richten, ohne dass irgendwelche Personen daran beteiligt waren? Personen waren ein Teil der Stadt. Aber sie wurden erst dann zu Akteuren, wenn sie sich von der Masse abhoben, wenn sie individuelle Taten vollbrachten und eigene Entscheidungen abseits der gängigen Norm trafen. War Elaine vielleicht an irgendwelche besonderen Außenseiter geraten? Hatten die Mutter und ihr Sohn aus der Kneipe irgendetwas mit ihrem Schicksal zu tun? War sie wirklich tot, oder hatte die Frau ihn angelogen, damit er Ruhe gab?
Andy schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, die für den Zeitpunkt unangemessen waren, und ging auf den Eingang des Hotels zu. Ein Page versperrte ihm den Weg: „Es tut mir Leid, aber so kann ich Sie unmöglich hier rein lassen. Sie tragen nicht einmal eine Krawatte, von Schuhen ganz zu schweigen.“
Andy seufzte müde und fixierte den Blick des Mannes. Solche Leute kannte er zur Genüge, sie machten nur ihren Job – aber er musste den seinigen erledigen. „Ich brauche ein Zimmer für die Nacht und eine Auskunft. Ich kann bezahlen und Ihnen erklären, warum ich im Augenblick eine so unangemessene Erscheinung habe. Je schneller ich hier ein Zimmer bekomme, desto schneller bin ich hier weg und sehe wie ein normaler Mensch aus. Verstehen wir uns?“
Der Page wollte ihm zuerst noch etwas entgegnen, öffnete sogar den Mund – und dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich von abweisend zu höflich, wenn auch immer noch kühl: „Ich verstehe. Kommen Sie mit, ich bringe Sie zur Rezeption.“
Der Page machte auf dem Absatz kehrt und öffnete Andy die Tür. Andy ging hinein, mit einem leichten Grinsen der Freude, auch wenn er sehr überrascht war, dass er nicht länger mit dem Mann hatte diskutieren oder ihn hatte bestechen müssen.
Im Empfangsbereich zog Andy sofort alle Blicke auf sich, und ihm war sonnenklar, dass dies nicht auf seine blendende Erscheinung zurückzuführen war. Aber er biss die Zähne zusammen, setzte ein Lächeln auf und folgte dem Pagen. Was auch immer sich die Leute denken mussten, sie hatten garantiert keine Ahnung von dem, was tatsächlich passiert war. Und er würde sich nicht von tadelnden Blicken fertig machen lassen, die von falschen Annahmen ausgingen und damit vollkommen unberechtigt waren. Auch wenn er in ihrer Situation vermutlich genauso reagiert hätte, er war in seiner eigenen Situation und nicht in ihrer.
Der Page beugte sich leicht über den Schalter und flüsterte dem Mann an der Rezeption schnell etwas zu. So sehr Andy seine Ohren auch anstrengte – und er war immer der Meinung, dass er über ein ausgezeichnetes, nicht durch Kopfhörer- oder Disco-Dauerbelastung angegriffenes Gehör verfügte – er verstand nicht eine Silbe davon. Danach verlief jedoch alles in gewohnten Bahnen. Der Angestellte des Hotels nahm Andys Personalien auf, wies ihm ein Zimmer zu – noch immer mit einem Zimmerschlüssel, nicht mit einer Schlüsselkarte – und fragte nach dem Zahlungswunsch, während er den Schlüssel auf die Theke legte. Andy nickte und zog seine Brieftasche hervor, suchte eine seiner Kreditkarten heraus und reichte sie weiter.
Der Angestellte zog eine Augenbraue hoch, als er seinen Blick über die Karte gleiten ließ: „Damit wollen Sie bezahlen?“
Andy stutzte: „Ja, gibt es ein Problem? Akzeptieren Sie diese Karten nicht?“
Der Angestellte lächelte zuckersüß, als ob er es mit einer begriffsstutzigen Person zu tun hatte: „Sie sind nicht von hier, habe ich recht?“
Andy nickte verwirrt über diese Frage. Wäre er von hier, würde er wohl kaum ein Hotelzimmer nehmen.
Der Angestellte lächelte noch breiter: „Das erklärt alles. Ich werde sehen, was ich machen kann.“
Er legte die Kreditkarte vor sich auf die Theke ab, genau parallel zur Kante ausgerichtet, und griff nach einem Telefonhörer. Seine Finger wählten blitzschnell eine Nummer, so dass selbst ein geübter Zuschauer nicht hätte erkennen können, um welche Ziffern es sich dabei handelte, und wartete einige Augenblicke. Dann begann er zu sprechen. Die Verwirrung auf Andys Gesicht wurde größer, ob er es nun wollte oder nicht. Der Angestellte murmelte, nuschelte, tuschelte irgendetwas ins Telefon, das Andy nicht im Geringsten verstehen konnte, egal wie sehr er sich auch anstrengte.
Mehr noch, die Bruchstücke dieser einseitigen Konversation, die er erhaschen konnte, ließen sich keiner Sprache zuordnen, mit der Andy jemals in Kontakt gekommen war. Wenn es etwas gab, das die Bezeichnung Kauderwelsch verdiente, dann war es dieses Telefonat. Doch bevor diese ganze Sache allzu seltsam wurde, hörte der Angestellte zu sprechen auf und lauschte offensichtlich den Anweisungen von der anderen Seite der Leitung. Diese kommentierte er lediglich mit Lauten der Bestätigung, mit den von jedermann verständlichen Hmhms und Ahas, immer wieder begleitet von einem leichten Kopfnicken.
Dann legte er den Hörer auf und lächelte Andy an: „Es ist alles geregelt. Sie können auf Ihr Zimmer gehen. Die Aufzüge sind dort drüben“, er deutete zu seiner linken.
Andys Blick folgte der Handbewegung und traf auf zwei Türen. Da begann er auch endlich, das Innere des Raums wahrzunehmen. Das Design der Umgebung passte auch hier tadellos zur äußeren Erscheinung des Gebäudes, eine elegante Gestaltung mit Marmor und Glas, Verzierungen in Gold und Smaragdgrün. Er war sich nicht sicher, ob einzelne Partien tatsächlich aus Malachit waren, weil er sich nicht so genau mit den Steinen auskannte, um dies treffsicher entscheiden zu können, aber zumindest kam ihm dieser Begriff in den Sinn.
„Ihr Zimmer befindet sich im achten Stockwerk, halten Sie sich nach dem Verlassen des Aufzugs rechts. Ich werde Ihnen den Zimmerservice zu Ihnen schicken, der sich um Ihre Bekleidung kümmern kann. Bis morgen wird die hauseigene Reinigung alles in Ordnung bringen.“
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