Er konnte es sich nicht erklären außer dadurch, dass er einen Blackout gehabt haben musste. Sein Gedächtnis hatte ihn aber noch nie derartig im Stich gelassen. War das wirklich das Alter, das sich meldete? Oder lag alles einfach nur am Stress? Es war sicherlich der Stress. Seit seinem ersten Schultag war ihm nichts Vergleichbares passiert, außer in manchen seiner Alpträume. Seit er Lesen und Schreiben gelernt hatte, war er niemals mehr in einer solchen Situation gewesen. Nur half ihm dieses Wissen an einem Ort ohne Schilder nicht weiter. Seit er sich erinnern konnte, hatte er sich noch nie so verlassen und hilflos gefühlt. Und er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass es Elaine genauso gegangen sein musste. Aber war das genug, um sie so weit in die Depression zu treiben? Er glaubte nicht daran. Es musste noch etwas passiert sein, während sie auf diesen Straßen herumgelaufen war. Aber er würde es sicherlich nicht herausfinden, würde er weiterhin in diesem Haus sitzen bleiben. Auch wenn ihm der Gedanke, wieder in seine Schuhe zu schlüpfen und weiterzugehen sehr unangenehm war, er musste weiter. Vielleicht würde er ja eine Telefonzelle auftreiben können, auch wenn das im Zeitalter von Handys nicht mehr so einfach war wie früher.
Mit zusammengebissenen Zähnen schob er langsam den rechten Fuß in den dazugehörigen Schuh und fluchte innerlich. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, diese Pause einzulegen. Jetzt spürte er den Druck und den Schmerz noch deutlicher als zuvor. Aber eine andere Wahl hatte er nicht, also folgte der linke Fuß dem rechten in seine eigene kleine Folterkammer. Noch nicht losgehen, warte erst ab, bis sie sich wieder an die Schuhe gewöhnt haben. Und dann sieh zu, dass du dir etwas zu trinken besorgst. Er bemerkte, dass sein Mund völlig ausgetrocknet war und bedauerte für einen Augenblick, nicht das Wasser aus dem Taschentuch getrunken zu haben. Dann wiederum, wer wusste schon, wie sauber das Regenwasser einer Großstadt wirklich war. Ihm schauderte beim Gedanken daran, welche Chemikalien sich gerade an seinen Haaren oder seiner Haut zu schaffen machten. Was war das für ein seltsames Kribbeln?
Seine Haut fühlte sich warm an und begann zu jucken. Gleichzeitig breitete sich in seinem Magen ein flaues Gefühl aus. War das wirklich nur Wasser gewesen, das stundenlang gegen seinen ungeschützten Kopf geprasselt war? Oder war es der vielfach beschworene saure Regen gewesen? Smog, saurer Regen, das atomare Feuer und der Giftmüll als die Perversion der natürlichen Elemente? Warum dachte er überhaupt an so etwas? War der Stress daran schuld, dass ihm solche verrückten Dinge in den Kopf kamen? Aber das Jucken ging davon nicht weg. Oder doch? Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Es gab keinen Grund dafür durchzudrehen. Er war schließlich nicht in Lebensgefahr. Er wusste nur nicht wo er war. Und er war vom unaufhörlichen Nieselregen durchnässt worden. An Säure statt Regen zu denken war doch einfach nur lächerlich. Er hatte nie welchen erlebt. Das war sicher nur eine weitere urbane Legende, ins Leben gerufen durch übereifrige Umweltschützer. Das Kribbeln wurde schwächer und ebbte ab, und dann stellte er fest, dass seine Haare schon so gut wie trocken waren. Er grinste, um sich selbst aufzumuntern. Nur die Nerven, weiter nichts. Es waren nur seine überstrapazierten Nerven.
Seine Füße pochten noch immer, beschwerten sich stumpf über das unpassende Schuhwerk, aber er musste trotzdem weiter. Wenn er bis zum Einbruch der Dunkelheit keinen Hinweis auf Elaines Schicksal gefunden hatte, dann sollte er besser ein Hotel finden, um dort unterzukommen. Der Gedanke, irgendwo auf einer noch nicht gefundenen Parkbank oder unter einer womöglich vorhandenen Brücke zu schlafen, jagte ihm unangenehme Schauer über die Haut. Er war weder obdach-, noch mittellos, und der Gedanke, dass man ihn dafür halten könnte, widerstrebte ihm zutiefst. Er wusste zu gut, wie man solche Menschen behandelte. Er war kein Herumtreiber, kein Krimineller, kein Verlierer und nichts von all den anderen Stereotypen. Er hatte einfach nur Pech gehabt, und das nicht mal über längere Zeit hinweg, sondern nur mit der Wahl eines einzigen Zugs. Oder war das etwa schon genug, um sein Leben zu ruinieren? Würde er eine dieser Gestalten werden, die kaum noch an die Menschen erinnerten, die sie mal waren? Würde er eine dieser ungepflegten Kreaturen sein, die nach Schweiß, Alkohol und Urin stanken, und keine Spur mehr von der Würde eines Menschen trugen?
Er biss sich auf die Zunge und schüttelte den Kopf. Er würde nicht im Sumpf aus Selbstmitleid und Elend versinken. Was auch immer Elaine in die Depression getrieben hatte, würde ihn nicht bekommen. Er hatte ein abschreckendes Beispiel vor Augen, und er war verdammt noch eins ein Mann, der schon mit schlimmeren Dingen zu tun hatte als grundlosen Ängsten und seltsamen Gedanken. Die schlimmsten Dinge, die einem passieren konnten, wurden immer von Menschen in Gang gesetzt, und nicht vom Pech, Schicksal oder irgendwelchen Göttern. Von Unfällen und Naturkatastrophen mal abgesehen war alles Unglück von Menschenhand gemacht. Er hatte nichts zu befürchten, zumindest solange nicht, bis er an einen Sadisten geriet. Wem war Elaine eigentlich in dieser Stadt begegnet? Dieser Frau mit der Stimme einer Sirene? Was sollte eigentlich dieser Vergleich, der plötzlich in seinem Kopf aufgetaucht war?
Während er sich erneut dem Nieselregen aussetzte, kehrten seine Gedanken erneut zu einem früheren Punkt in ihrem Verlauf zurück. Für ihn bestand nun kein Zweifel mehr, dass Elaines Unglück mit Sicherheit auf eine Person zurückzuführen war, wenn nicht sogar auf mehrere. Über einen Unfall hätte sie gesprochen. Es gab keinen Grund, so etwas zu verschweigen. Da nichts ohne einen Grund geschah, musste jemand dafür verantwortlich sein. Und er war der einzige, der die Chance hatte, diese Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Also würde er es tun. Das war sein Job, seine Berufung. Das war der Grund, warum er in den Zug gestiegen war. Es war kein Pech und auch kein falscher Zug. Es war das einzig richtige gewesen, das er in diesem Augenblick hatte tun können und er hatte es getan. Er würde sich ein Hotel suchen und dann zu diesem Lokal mit dem seltsamen Namen zurückkehren.
Andys Blick glitt nach oben als die Wolken aufrissen und ein Sonnenstrahl durch sie hindurch zwischen die grauen Klötze der Häuser fiel. Das erste Mal, dass er das Licht der Sonne sah, seit er unter der Erde hervorgekommen war. Dieser Strahl lenkte seinen Blick wie ein Zeigefinger nach unten. War das ein Zufall? War das ein Hinweis, dem er folgen sollte? Konnte in einer Stadt ohne Straßenschilder und ohne eine Auskunft ein Lichtstrahl als Ersatz dienen? War das nicht etwas kitschig?
Er atmete tief durch. Was kostete es ihn schon, dorthin zu gehen? Eine bessere Alternative hatte er sowieso nicht. Wenn er ohnehin ohne eine Richtung herumirrte, konnte er ebenso gut in eine Richtung gehen, wo es nicht regnete. Würde er dort weder eine Spur, noch ein Hotel finden, würde er zumindest nicht nasser werden als in einer anderen. Also beschloss er, weiterhin das Nörgeln seiner Füße zu ignorieren und bog an der nächsten Ecke in eine andere Richtung als die bisherige.
Jeder Schritt machte sich schmerzhaft bewusst, jedes Aufsetzen seiner Füße, jedes Abrollen, jedes Abheben. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Er kam dem von der Sonne beschienenen Fleck einfach nicht näher, egal wie viele Schritte er tat. Dabei war er sich so sicher, dass er stets die richtige Richtung einhielt. Er war sich nur nicht sicher, ob seine Füße ihn nicht zu sehr davon ablenkten. Als sich bei einem Schritt unerwartet nicht nur sein schmerzender Fuß, sondern auch seine Kehle mit einem unterdrückten Aufstöhnen meldete, merkte er, dass es genug war. Er musste diese Schuhe loswerden, nasse Straßen hin oder her. Also blieb er stehen, immer noch unschlüssig darüber, ob das wirklich die beste Lösung war, löste seufzend die Knoten seiner Schnürsenkel und zog mühsam die Schuhe von seinen Füßen. Seine Socken stopfte er in die Schuhe, die er mit den Schnürsenkeln aneinander band und nun in die Hand nahm. Seine Füße sahen nicht besonders gut aus, aber zumindest war keine der Blasen aufgegangen oder blutig gescheuert worden. Immerhin etwas Gutes.
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