So oder so, er brauchte einen trockenen Platz zum Schreiben, den es in seiner direkten Umgebung nicht gab, also setzte er sich erneut in Bewegung. Er wanderte durch die Straßen und bemerkte als einzige Veränderung, dass die dominante Farbe in der Gestaltung der hoch aufragenden Plattenbauten von Blau zu Gelb wechselte. An diesem Punkt wurde Andy klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmen konnte. So wie seine Füße schmerzten – verflucht seien seine präsentablen, aber für lange Wanderungen gänzlich ungeeigneten Schuhe! – war er inzwischen sicherlich mehrere Kilometer gelaufen. Er hätte längst an seinem Zuhause oder zumindest an einer der angrenzenden Straßen vorbeikommen müssen, sah aber noch immer nicht ein bekanntes Gebäude. Ebenso wenig sah er irgendein öffentliches Verkehrsmittel. Nur ab und zu entdeckte er die Schienen einer Straßenbahn, auf denen sich jedoch keine Fahrzeuge bewegten, wenn er an ihnen vorbeikam, nicht einmal dann, wenn er dem Verlauf eine Weile folgte.
Dann bemerkte Andy plötzlich, dass die Eingangstür eines der Häuser offen stand. Auch wenn es kein öffentlicher Aufenthaltsraum war, so wäre er zumindest vom Regen geschützt. Er könnte sich hinsetzen, seinen pochenden Füßen eine Pause gönnen und endlich alles zu Papier bringen, das er bisher erfahren hatte. Vielleicht würde ihm dabei noch etwas einfallen, auf das er bisher nicht geachtet hatte. Andy sah sich kurz um, stellte erneut fest, dass weiterhin keiner der wenigen Passanten auf ihn achtete, und verschwand hinter der Tür. Er atmete erleichtert durch, als er nicht mehr das schwache Geprassel der Regentropfen auf seiner Haut spürte. Dass er ausgerechnet an diesem Tag seinen Regenschirm zu Hause lassen musste! Aber so war es manchmal, dass sich Pech anhäufte, also atmete er tief durch, um das Selbstmitleid zu verscheuchen. Er hatte endlich einen trockenen Ort gefunden, an dem er sich hinsetzen konnte. Das war der zweite Lichtblick an diesem Tag nach einem unerwartet guten Frühstück. Andy ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf einer der höher gelegenen und sauberen Treppenstufen nieder und löste die Schnürsenkel seiner Schuhe, um seinen Füßen endlich Freiraum zu geben.
Was für eine Wohltat! Er zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte sich damit über das Gesicht und über die Haare. Es sog sich viel zu schnell mit Wasser voll. Er wrang es so weit von sich wie möglich aus und versuchte erneut, seine Haare etwas trockener zu bekommen, musste jedoch bald kapitulieren. Die Aufnahmekapazität des dünnen Stoffes war viel zu schnell erreicht. Wie hatte er im leichten Nieselregen so nass werden können? War er etwa länger herumgelaufen als er gedacht hatte? Am diffusen, herbstlichen Tageslicht konnte er nicht erkennen, wie spät es war.
Seine Füße pulsierten noch immer, auch wenn der Schmerz langsam am Abklingen war. An ein erneutes Anziehen der Schuhe war noch nicht zu denken. Andy zückte sein Notizbuch und seinen Bleistift und hielt dann inne. Was sollte er denn schreiben? Dass er in einen ihm unbekannten Zug gestiegen, an einer ihm unbekannten Haltestelle wieder ausgestiegen war und sich nun in einem ihm vollkommen fremden Stadtteil befand? Dass er durch einen merkwürdigen Zufall auf eine Frau gestoßen war, die etwas über die Vermisste wusste, und sie nicht mal nach ihrem Namen gefragt hatte? Sollte er etwa hinschreiben, dass er keine Straßenschilder finden konnte und auch nicht mehr zur Station zurückfand, dass es weder eine Straßenbahn noch ein Taxi gab, dass er in den Stunden, in denen er herumgelaufen war, bis auf dieses eine Lokal keine Geschäfte, keine Kneipen und keine Hotels gefunden hatte? Auch wenn er sich genau in dieser Lage befand, zögerte er, den Bleistift anzusetzen. Jeder Leser würde diese Aufzeichnungen für ein Lügengebilde, oder noch schlimmer, für das Geschwafel eines Verrückten halten. Konnte man innerhalb weniger Stunden verrückt werden, wenn man jegliche Orientierungsmöglichkeit verlor? Hatte das damals ausgereicht, um Elaine den Lebenssinn zu rauben?
Er wollte sein Notizbuch wieder zuklappen und sah mit Schrecken, dass er trotz seines Zögerns ohne darauf zu achten etwas geschrieben haben musste. Es war seine säuberliche, gut leserliche Schrift. In Worten, die seine hätten sein können war all das dokumentiert, was ihm seit seinem Aufbruch mit dem Zug passiert war. Es war, als ob er bereits angefangen hatte, einen Bericht für seine Auftraggeber, Elaines Eltern, zu schreiben. Nur dass er sich sicher war, dass er kein Wort davon verfasst hatte. Er hatte nicht einmal das Papier mit der Spitze seines Bleistifts berührt, der noch immer so lang und so spitz war wie zuvor. Aber woher kamen dann diese Worte? Und bestand womöglich sogar ein Zusammenhang zwischen diesem Block mit dem Heft, das man bei Elaine gefunden hatte?
Den Überresten nach hätten es Bilder aus ihrer Hand sein können. Vielleicht waren sie das, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte sie mit derselben Mischung aus Staunen und Angst feststellen müssen, dass in einem ihrer noch unbenutzten Hefte, das vermutlich zur Aufzeichnung einer Vorlesung gedacht war, plötzlich Bilder auftauchten. Bilder, die so aussahen, als ob sie durch sie selbst angefertigt waren, es aber auf keinen Fall sein konnten. Sie gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die Tagebücher führten, zumindest hatte man keines bei ihr gefunden. Warum sollte sie ein Tagebuch in Bildern erstellen? Oder waren die Erlebnisse dieser Stunden oder Tage derart gravierend gewesen, dass sie unbedingt ihren Weg aufs Papier hatten finden müssen?
Andy las das Geschriebene noch einmal durch, das sich für seine eigene Handschrift ausgab. Konnte er das wirklich aufs Papier gebracht haben? Sein Bericht begann in diesem Notizblock damit, dass der Wecker dank einem nächtlichen Stromausfall nicht klingelte, dass er sich hastig für die Arbeit fertig machte, dass er weder Frühstück noch seinen Morgenkaffee hatte und dass er in den Zug mit dem Tornado-Graffity gestiegen war. So weit stimmte alles, auch wenn Andy sich sicher war, dass er erst nach der Abfahrt der U-Bahn gemerkt hatte, in welchem Zug er sich befand. Schließlich war er zu spät zu einem wichtigen Termin, viel zu spät.
Auch der Abschnitt, der sich mit seinem bisherigen Aufenthalt in diesem unbekannten Stadtteil und mit seiner Begegnung in der Kneipe beschäftigte, entsprach haargenau dem, das Andy erlebt hatte. Nur die Fahrt selbst, die fiel aus dem Rahmen. Er las diesen Teil erneut, und merkte erst gegen Ende, dass er seine Zähne fest aneinander gepresst hatte, so dass sie bei der kleinsten Kieferbewegung knirschten. Die Worte erklärten ihm haargenau, warum er sich während der Fahrt so unwohl gefühlt hatte. Dieses Empfinden hatte nur bedingt etwas mit der Befürchtung zu tun, dass er sich womöglich in die falsche Bahn gesetzt hatte, wie er zuerst gedacht hatte.
Auf dem Papier stand schwarz auf weiß, dass Andys Blick trotz des überfüllten Wagens manchmal ein Stück der Fenster erhaschen konnte, hinter denen nur Dunkelheit war und die darum das Innere des Wagens spiegelten. Diese Spiegelungen waren das eigentliche Problem gewesen. In ihnen sah er Leute, die nicht im Wagen gewesen waren. Ihre Gesichter waren gespenstisch blass, mit einem violetten Unterton – aber das war völlig normal. Genauso sahen auch alle anderen Fahrgäste in diesen Spiegelbildern aus. Das lag an den Fenstern selbst. Nur die zusätzlichen Leute, fünf an der Zahl, die gehörten da nicht hin. Als ob es Geister wären, die ihn aus dem Spiegel heraus ansahen. Und eine von ihnen sah genau so aus wie die Vermisste.
Andy wurde sich seiner Anspannung bewusst, löste die Umklammerung seiner steif werdenden Finger und klappte das Notizbuch zu. Das konnte nicht von ihm sein, das konnte so nicht stimmen. Das war völlig absurd. Diese sogenannten Geister waren sicherlich nur Einbildung gewesen. Vermutlich nicht einmal das. Das musste irgendein kranker Scherz sein. Er hatte das jedenfalls nicht geschrieben. Andy war sich selbst vollkommen sicher, dass er auf keinen Fall so viele Sätze in der kurzen Zeit seiner Grübelei zu Papier bringen konnte. Er nahm eine gewisse Langsamkeit in Kauf, damit seine Schrift stets gut leserlich blieb, genauso wie er an einer Tastatur lieber etwas langsamer tippte, als ständig Fehler korrigieren zu müssen. Und selbst wenn ihm seine Wahrnehmung der Zeit einen weiteren Streich gespielt hätte, hätte er nicht so viel schreiben können. Also hatte er nichts geschrieben. Wie kamen dann diese Worte in seiner eigenen Handschrift in seinen Block?
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