Es war ein seltsames Gefühl, barfuß auf den regennassen Straßen der Stadt zu laufen. Aber es war auch überraschend angenehm. Das Wasser und der flüssige Matsch kühlten seine Füße und linderten den Schmerz, zudem fühlte sich der Asphalt nicht so rau und unangenehm an wie er es befürchtet hatte. Er konnte froh sein, dass es nicht die brütende Hitze des Sommers war, mit der er sich abplagen musste, sondern nur der herbstliche Nieselregen. Ansonsten hätte er seine Füße nicht nur in diesen Schuhen malträtiert, sondern hätte jetzt auch noch über aufgeheizte Straßen laufen müssen.
Schon bald spürte er den Schmerz seiner Füße kaum noch und konnte sich ganz und gar dem Gehen zuwenden. Der Sonnenstrahl war immer noch da und er schien noch immer an dieselbe Stelle wie vorher. Das war merkwürdig, aber nicht so eigenartig wie die Sache mit seinem Notizblock. Für einen Moment verspürte er den Anflug der Neugierde, wollte wieder einen Blick auf die Seiten werfen, ob inzwischen etwas ohne sein Zutun hinzugekommen war oder nicht. Dann schüttelte er darüber den Kopf und ging weiter. Er hatte keine Zeit, um sich von so etwas ablenken zu lassen. Außerdem, wieso sollte da plötzlich etwas drin stehen, das er auf keinen Fall selbst geschrieben haben könnte? Diesmal hatte er nicht einmal dazu angesetzt, um etwas zu notieren, also konnte er auch nicht gedankenverloren etwas geschrieben haben. Darum würde es auch keine neuen Sätze auf dem Papier geben.
Seine durch kühle Nässe besänftigten Füße trugen ihn langsam in einen anderen Teil der Stadt. Er konnte Bäume und Sträucher sehen und vereinzelt auch Blumenbeete, die im Regen jedoch weitaus weniger schön wirkten als sie es bei strahlendem Sonnenschein getan hätten. Die Häuser in dieser Gegend wirkten nicht so heruntergekommen und die Menschen auf den Straßen waren besser gekleidet. Auf ihr Verhalten hatte dies jedoch keine Auswirkung. Sie waren immer noch so abweisend und stumm wie vorher. Der Sonnenstrahl war noch nicht verschwunden und schien an denselben Ort wie schon die ganze Zeit. Wenigstens konnte Andy so nicht sein vorläufiges Ziel aus den Augen verlieren. Es war ein größeres Gebäude auf der anderen Seite des Flusses, der die Stadt teilte. Andy musste eine Zeitlang an der Uferpromenade entlang wandern, bis er endlich eine Brücke fand. Sie schienen rar zu sein, und das obwohl die Stadt doch so groß zu sein schien. Sie war auch viel schmaler als die Hauptstraße, die auf sie zuführte und auf dem anderen Ufer von ihr wegging. Das tat dem Straßenverkehr jedoch keinen Abbruch; er lief genauso reibungslos ab wie auf allen anderen Straßen dieser Stadt.
Andy blieb zögernd stehen. Auf beiden Seiten der Fahrbahn gab es auch Fußgängerwege. Doch er sah keine einzige Person die Brücke betreten. Es war seltsam, fuhren die Fahrzeuge doch einwandfrei über sie hinweg. Hatte er vielleicht ein Schild übersehen, das Passanten das Betreten der Brücke aus irgendeinem Grund nicht gestattete? Nein, ein solches Schild gab es nicht – weder bei dem einen, noch bei dem anderen Weg. Doch Andy zögerte weiterhin. Das Fehlen von Schilden jeglicher Art war symptomatisch für diese Gegend. Zugleich schien es sehr wohl Regeln zu geben, nach denen der Straßenverkehr ablief. Demnach war diese Brücke wohl für Fußgänger gesperrt. Oder etwa nicht? Andy wartete eine Weile, in der Hoffnung, doch noch jemanden zu sehen, der über die Brücke zum anderen Ufer laufen würde. Nichts dergleichen geschah. Er knurrte leise vor Verärgerung und beschloss, nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, auf die andere Seite des Flusses zu kommen. Vielleicht gab es ja eine Brücke, die explizit für Fußgänger gedacht war.
Doch auch die nächste Brücke, die er nach einiger Zeit erreichte, bot genau dasselbe Bild. Die Fahrzeuge bewegten sich problemlos von einer Seite auf die andere, die Fußgänger mieden jedoch die Wege, als ob es sie gar nicht gab. Das fand Andy noch merkwürdiger. Aber er musste auf die andere Seite kommen. Dort war dieses von der Sonne beschienene, beeindruckende Gebäude mit großzügigen smaragdgrünen Verzierungen, das er sich näher ansehen wollte und das vielleicht sogar eine Spur vom Verbleib der verschwundenen jungen Frau enthielt. Er würde jetzt einfach auf die andere Seite des Flusses gehen. Warum auch immer die Leute nicht die Brücke betraten, er konnte keinen Grund dafür erkennen. Sie sah nicht baufällig aus und auch nicht besonders gefährlich. Also setzte er seinen Fuß auf den senkrecht abweichenden Weg und hatte schon bald nichts außer etwas Stahl, Beton und Luft zwischen sich und dem Wasser darunter.
Kapitel 2: Echos und Visionen
Die Brücke war weder abgesperrt noch heruntergekommen, aber außer Andy setzte niemand einen Fuß auf den Bürgersteig, obwohl die Fahrzeuge unbeirrt ihren Weg über die Fahrbahnen fortsetzen. Er wunderte sich ein wenig, aber ließ sich nicht weiter stören. Er wollte auf die andere Seite des Flusses kommen. Das war die beste Gelegenheit. Von dieser Brücke aus schien der Weg zum sonnenbeschienenen Gebäude am kürzesten zu sein. Er setzte einen Fuß nach dem anderen auf, legte einen Meter nach dem anderen zurück. Es schien alles halb so wild zu sein – keine Glasscherben, die seine nackten Füße hätten zerschneiden können, keine herausstehenden Stahlgräten oder spitze Steinkanten. Die Brücke brach auch nicht plötzlich unter ihm zusammen. Und dennoch wankte er etwa in der Mitte seines Weges. Aus einem ihm unbegreiflichen Grund gaben seine Beine nach, als ob ihm etwas den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Er musste sich ins Gelände krallen, um nicht auf dem Beton aufzuschlagen, oder schlimmer noch, ins Wasser zu fliegen. Er hielt sich fest und wunderte sich darüber, wie schwer sein Atem plötzlich ging, als ob er nicht nur sich selbst stabilisieren, sondern gleich noch eine Handvoll Menschen mittragen musste. Doch das Echo ließ nach einigen mühsamen Atemzügen nach und seine Arme hörten zu zittern auf. Echo? Wieso drängte sich ihm ausgerechnet dieses Wort auf?
Andy hangelte sich entlang des Geländers zur anderen Seite des Flusses, aber etwas Vergleichbares passierte ihm nicht noch ein weiteres Mal. Er sah zurück, doch die Brücke sah nicht anders aus als zuvor. Andys Blick verweilte noch einen Augenblick länger auf ihr, dann schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Er hatte ein Ziel und wollte nicht über seltsamen Gedankengängen brüten und damit womöglich erneut zu spät kommen. Der Sonnenstrahl war immer noch da, und inzwischen würde er das Gebäude selbst ohne seine Weisung nicht mehr verfehlen, aber das war nicht das Entscheidende in diesem Moment. Das Problem war, dass der Sonnenstrahl seine Farbe und Intensität verlor. Der Winkel musste sich geändert haben. Der Abend brach an. Und wenn dieses Gebäude nicht zufällig ein Hotel war, dann sollt er sich beeilen, um danach noch eines finden zu können.
Diesmal irrte er nicht mehr ziellos durch die Straßen, aber das war nicht das Einzige, das sich geändert hatte. Die Straßen selbst waren andere geworden. Auch wenn der seltsame, kaum fassbare Hauch des Verfalls über allem schwebte, waren diese Häuser nicht mehr so heruntergekommen wie die zuvor, die Gesichter der Menschen waren nicht mehr ganz so teilnahmslos, und mit der einsetzenden Nacht kam plötzlich mehr Licht in diese Stadt. Es waren nur die Straßenlaternen, die nach und nach angingen, aber ihr Licht spiegelte und brach sich in den unzähligen, winzigen Regentropfen. Er bemerkte erst nach einer Weile, dass er mit leicht geöffnetem Mund dastand und das funkelnde Schauspiel bewunderte. Und er schüttelte sich. So etwas war ihm noch nie passiert, zumindest konnte er sich an nicht Vergleichbares erinnern.
Die Dunkelheit kam schneller über die Stadt als Andy es erwartet hätte. Oder hatte ihn der Anblick so sehr verzaubert, dass er die Zeit aus den Augen verloren hatte? Er war sich nicht sicher, was alles da im Spiel gewesen war, aber er wusste, dass er ganz dringend weitergehen musste. Also eilte er in die Richtung, die er noch gut genug im Gedächtnis hatte. Die Häuser zogen nach und nach an ihm vorbei. Den durchgehend besser gekleideten Passanten stand zwar die Verwunderung über seine barfüßige, durchnässte und leicht zerzauste Erscheinung ins Gesicht geschrieben, aber er beschloss, nicht darauf zu achten. Er war nicht für dieses Viertel, diese Stadt oder dieses Was-auch-immer zuständig, also konnte es ihm auch egal sein, welchen Eindruck er bei irgendwelchen Leuten dort hinterließ. Diese Personen hatten sicherlich nichts mit seinem Fall zu tun. Es waren unbeteiligte Statisten, gemeines Volk. Warum auch immer ihm gerade dieser Ausdruck durch den Kopf ging.
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