„Ich...“, Andy erinnerte sich plötzlich daran, dass er an diesem Tag weder etwas gegessen, noch seinen üblichen Morgenkaffee zu sich genommen hatte. Vielleicht war das eine Erklärung für all die merkwürdigen Dinge gewesen, die ihm passiert waren? Unachtsamkeit auf Grund von einem Mangel an Substanzen, die sein Körper jeden Morgen benötigte?
„Ich nehme einen Kaffee und... haben Sie ein Frühstücksmenü?“ Er hoffte, dass es für so etwas noch nicht zu spät war. In dem diffusen Licht des herbstlichen Nieselregens war ihm jegliches Zeitempfinden verloren gegangen.
Die Frau lächelte leicht und nickte: „Selbstverständlich. Um genau zu sein haben Sie zwei zur Auswahl.“ Sie reichte ihm eine einfache Karte.
Andy nahm sie entgegen und blinzelte verwirrt. Wieder konnte er kein einziges Wort entziffern. Also versuchte er es auf gut Glück. Das Essen war ohnehin zweitrangig: „Ähm... ich nehme dann die erste Variante. Den Kaffee bitte stark, schwarz und ungesüßt.“
Sie lächelte und nickte, und verschwand hinter der Tür, die offensichtlich in die Küche führte. Eine Minute später kehrte sie mit einer großen Tasse zurück, aus der dampfend der für Andy schönste Geruch des Morgens aufstieg. Genau so sollte der Kaffee duften und nicht anders! Er lächelte und nahm die Tasse in Empfang.
„Der Rest kommt gleich“, fügte die Frau hinzu, die Andy in seinen Gedanken nicht als eine einfache Bedienung titulieren wollte. Irgendwie schien es ihm, dass diese Bezeichnung ihr nicht gerecht wurde, warum auch immer er daran denken musste.
Der Rest seiner Bestellung ließ nicht lange auf sich warten. Es war genau das Frühstück, das er versäumt hatte – Toast mit einigen hauchdünnen Scheiben Salami belegt, und einige Scheiben, die er sich nach Belieben mit einer kleinen Auswahl an Konfitüre bestreichen konnte. Innerlich atmete Andy erleichtert durch. Er hatte also richtig geraten, was für ein Glück. Der erste Lichtblick eines so schrecklichen Tages.
Als er seine Mahlzeit beendet hatte und die Tasse leer war – die Frau hatte ihm den Kaffee so lange nachgeschenkt, bis er ihr das Zeichen gab, dass er genug hatte – fiel ihm wieder ein, warum er eigentlich in dieses Lokal hineingegangen war: „Entschuldigen Sie – aber haben Sie vorhin ein Mädchen gesehen? Sechzehn Jahre alt, würde ich sagen, dunkle Haare, Schuluniform... warum auch immer sie an einem Montagvormittag nicht in der Schule ist.“
Die Augen der Frau fixierten ihn plötzlich und er war überrascht von der plötzlichen Welle des Misstrauens, die durch den Raum schwappte: „Warum interessiert Sie das?“
Andys wohliges, sattes Gefühl machte plötzlich der wachen Aufmerksamkeit Platz: „Ich wollte ihr ein paar Fragen stellen. Wissen Sie, ich suche jemanden, und irgendwie schien es mir, sie könnte mir da vielleicht weiterhelfen. Aber vielleicht können Sie das ja auch?“
Die Frau zog eine Augenbraue hoch: „Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber fragen Sie ruhig. Kostet ja nichts.“ Der Klang ihrer Stimme hatte inzwischen an Weichheit und Freundlichkeit eingebüßt, Reserviertheit und Beherrschung hatten sich hineingeschlichen.
Irgendetwas stimmte da nicht. Wenn er nur wüsste, was es war. Er öffnete seine Tasche und zog eine kleine Schutzhülle hervor, die ein Foto der vermissten Elaine bewahrte. Es war einige Monate vor ihrem Verschwinden von ihrer besten Freundin bei einem gemeinsamen Wochenendtrip aufgenommen worden und mit Sicherheit das jüngste und treffendste Abbild der Verschwundenen. Für einen Augenblick glaubte er, schieres Entsetzen im Gesicht der Frau zu lesen, das an wahnsinnige, übermächtige Panik grenzte. Aber als er gerade in dem Moment unwillkürlich blinzelte, war danach keine Spur mehr von diesem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen, als ob er sich das nur eingebildet hatte. Dennoch blieb das Gefühl bestehen, dass diese Frau etwas wusste, etwas Wichtiges sogar.
„Sie haben Elaine schon mal gesehen, richtig?“, hakte er nach.
„Sie sollten besser gehen, und nicht wieder zurückkommen. Fragen Sie nicht wieder nach, und vergessen Sie sie am besten“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie war so präsent, dass Andy mit den Zähnen knirschen musste, um nicht sofort auf dem Absatz kehrt zu machen und tatsächlich aus dem Lokal zu verschwinden, auch wenn er noch nicht bezahlt hatte. Was zum Teufel war das?
„Wovor haben Sie Angst? Ich bin mir sicher, dass man für Ihren Schutz sorgen kann, wenn Sie etwas Wichtiges zu diesem Fall mitzuteilen haben. Was ist mit Elaine passiert?“
Er beobachtete sie nun genauer und bemerkte, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, die Knöchel drückten sich weiß durch die ohnehin helle Haut, und sah dann auch den Ehering, den sie trug. „Sie haben doch keine Ahnung, worum es geht. Sie sind nicht von hier, habe ich recht?“
Zumindest kannte Andy diesen Teil der Stadt nicht, also nickte er.
„Dann gehen Sie zurück, wo auch immer Sie hergekommen sind, und lassen Sie die... Dinge ruhen.“
Er hätte schwören können, sie wollte etwas anderes sagen. Und der ungesagte Ausdruck gefiel ihm überhaupt nicht. Er sollte die Toten ruhen lassen, wollte sie etwa das sagen?
„Ich bin auf der Suche nach Antworten, und ich gehe nicht eher bis ich sie habe.“
„Doch, das werden Sie. Notfalls schmeiße ich Sie raus“, hörte er dann eine weitere Stimme hinter sich. Sie gehörte offensichtlich einem jungen Mann, der gerade den Stimmbruch hinter sich hatte.
Als Andy sich umdrehte, sah er überrascht, dass dieser junge Mann einen halben Kopf größer war als er – und Andy war selbst nicht gerade klein gewachsen. Der rothaarige Bursche hatte die Statur und die Attitüde eines Straßenschlägers, oder war zumindest nahe dran. Abgesehen davon sah er der Frau, die sich nun hinter Andy befand, sehr ähnlich.
„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe und verschwinden Sie von hier. Wir haben schon genug Ärger, auch ohne dass irgendwelche Schnüffler sich hier breit machen wollen. Na los, raus!“
Andy war klar, dass der Bursche keine Skrupel davor hatte, ihn notfalls mit Gewalt auf die Straße zu werfen, wenn er es darauf ankommen lassen würde. Wo zum Teufel war er hineingeraten?
Einen Versuch wollte Andy sich jedoch noch zugestehen, bevor er sich geschlagen geben musste. Er drehte sich erneut zur Frau um und legte all seine Bestimmtheit in seine Stimme: „Ich frage Sie zum letzten Mal – was wissen Sie darüber, was Elaine zugestoßen ist?!“
Sie zischte ihn an: „Elaine ist tot, und jetzt gehen Sie endlich! Machen Sie, dass sie wieder nach Hause kommen, solange Sie es noch können, verdammt!“
Im selben Augenblick spürte Andy den kräftigen Griff zweier Hände am Kragen und am Gurt seines Mantels, und wie er auf die Straße gezerrt wurde.
„Wenn Sie sich noch einmal hier blicken lassen, sind Sie dran, verstanden?“, hörte er noch. Dann knallte die Tür hinter ihm zu. In einer letzten, trotzigen Reaktion versuchte Andy, erneut hinein zu kommen, aber die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Verflixt.
Seltsam, dass sie ihn loswerden wollten, obwohl er nicht bezahlt hatte. Wie auch immer die beiden in diese Geschichte verwickelt waren, sie waren es auf jeden Fall. Trotzdem stand er wieder draußen im Nieselregen, und die einzige Antwort, die er bekommen hatte, war die Behauptung, dass die Vermisste tot war. Es war nicht auszuschließen – aber dann musste sie in einem Schlafanzug aus ihrer Wohnung gekommen sein, ohne die von innen abgeschlossene Tür oder eines der Fenster zu öffnen. Das alles war sehr merkwürdig, aber es musste auf jeden Fall festgehalten werden. Im Nieselregen war das Beschreiben eines Notizblocks jedoch keine besonders gute Idee, also sah sich Andy nach einem Dach um. Ins Lokal konnte er nicht mehr zurück.
In dem Augenblick bemerkte Andy, dass er sich vorher wohl einen weiteren Wahrnehmungsfehler geleistet haben musste – der Schriftzug über dem Eingang, der bei Einbruch der Dunkelheit in Neonfarben aufleuchten sollte, besagte eindeutig, dass der Name dieses Imbiss-Kneipe-Clubs „Humpty Dumpty“ war. Wieso benannte jemand ein Lokal mit einem eindeutig erwachsenen Klientel nach einer Figur aus einer Kindergeschichte?
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