Andy rollte die Augen: „Es ist doch nichts passiert, nur ein Alptraum, weiter nichts.“
Alice zog eine Augenbraue hoch, antwortete aber nichts darauf. Andy sah sie an, sie sah ihn an. Sie standen eine Weile herum, er vor dem Spiegel, sie darin. Dann räusperte er sich: „Ich wäre jetzt gern ungestört, wenn du verstehst, was ich meine. Privatsphäre. Oder muss ich hier ein Handtuch drüber hängen?“
Sie kicherte mit einem schelmischen Glitzern in den Augen: „Ich hatte gestern schon das Vergnügen, schon vergessen? Aber wenn du unbedingt darauf bestehst, gehe ich wieder. Vergiss dein Tagebuch“, sie strich die letzten Worte und ersetzte sie mit, „deinen Notizblock nicht.“ Dann hauchte sie ihm einen Kuss zu und spazierte mit hochgezogener Nase geziert aus dem Spiegel.
Verdattert und auch ein wenig wütend blieb Andy stehen. Was bildeten sich diese komischen Gestalten eigentlich ein? Aber dann atmete er tief durch und widmete sich stattdessen lieber seiner Morgentoilette. Komisch, seinen Bartwuchs hatte er weniger stark in Erinnerung. Als ob zuvor eigentlich kein einzelner Tag, sondern zwei oder drei an ihm vorbeigezogen wären.
Als er wieder aus dem Badezimmer trat, klopfte es dezent an der Tür. Der Zimmerservice brachte ihm sein Frühstück und seine Kleidung.
Als Andy dem jungen Burschen ein Trinkgeld geben wollte, sah dieser ihn verdutzt an und winkte mit einem Lächeln ab: „Das... kann ich leider nicht annehmen. Aber danke für die Absicht.“
Der Page verschwand wieder und Andy steckte den Schein mit einem Schulterzucken wieder in seine Brieftasche.
Das Frühstück war wie erwartet hervorragend, allerdings erinnerte Andy sich an Alices Bemerkung im Badezimmer und beschloss, die Zeit gleich zu nutzen und einen Blick in sein Notizbuch zu werfen. Er war nicht überrascht, darin die Beschreibung seiner Träume zu lesen, ebenso wie einige seiner Gedanken dazu. Das Geschriebene verlor nach und nach den Charakter eines Berichtes und ging tatsächlich eher in ein Logbuch oder gar ein Tagebuch über. Wieder stellte er fest, dass es von manchen Personen, die er entweder bereits persönlich getroffen hatte oder die in seinen Träumen vorkamen, bis zu drei verschiedene Versionen gab. Er glaubte zuerst, dass diese Versionen vielleicht irgendeinen zeitlichen Bezug zueinander hatten – so war die Siren, die er getroffen hatte, deutlich älter als die aus seinen Träumen. Aber in seinen Träumen war Siren getötet worden, zusammen mit ihrem Geliebten oder Ehemann, und hier lebte sie. Und während er Elaine in zwei verschiedenen Situationen in Gesellschaft der beiden gesehen hatte, hatte die Gestalt, die sich Alice nannte – Andy weigerte sich, sie als Geist zu bezeichnen – und die Siren, die er in der Kneipe getroffen hatte, nichts miteinander zu tun. Oder zumindest gehörten sie nicht so eng zusammen wie die anderen Gruppen.
Andy las weiter. Da, zwischen dem letzten Traum, den er in dieser Nacht hatte, und seinem endgültigen Erwachen, ausgelöst durch den Weckruf, das mit „Tag 2“ vom Bisherigen abgesetzt war, lag noch ein weiterer Absatz, ein Einschub in einer anderen Schrift, die Andy sehr an Elaines Schrift erinnerte, aber in kleinen Nuancen anders war. Das musste Alice gewesen sein.
Es war einmal ein Königreich und dessen Spiegelbild. Beide hatten schreckliche Verluste zu beklagen, beiden waren König und Königin gestorben. Nach der angemessenen Zeit der Trauer übernahmen auf beiden Seiten ihre Kinder die Bürde der Regentschaft, die Kronprinzessin auf der einen Seite und der Kronprinz im Spiegelbild, während die jüngeren Geschwister – Bruder der Prinzessin, Schwester des Prinzen – sich weiterhin dem Leben des Müßiggangs widmen konnten. Der Prinzessin stand ihr treuer Agent zur Seite und der Prinz konnte auf die Unterstützung seiner Kanzlerin zählen. Und so schien sich alles wieder einzurenken, solange bis die Thronfolger ihr Gegenstück finden und die Reiche erneut von König und Königin regiert werden würden. Es wurde einmal prophezeit, dass die Prinzessin und der Prinz beide den Engel der Liebe finden mussten, wenn sie ihr Schicksal erfüllen sollten. Ohne ihn wären beide verloren, und die Reiche würden vergehen ohne König und Königin. Aber beide waren noch jung, kaum dem Kindesalter entwachsen, sicherlich hatten sie noch Zeit.
Doch was nur wenigen Eingeweihten bekannt war, der Frieden beider Reiche war brüchig. Ein uralter Fluch lastete auf beiden Seiten, der die Königsfamilien und ihre Ritter entzweite und sie in einem unaufhörlichen Schattenkrieg gefangen hielt. Während das gemeine Volk sein ruhiges Leben führen konnte, führten die Agenten beider Reiche einen nimmer endenden Kampf gegen ihre Spiegelbilder. So war es seit Anbeginn der Zeit, und diese Blutopfer hielten beide Seiten im Gleichgewicht, sorgten für das Überleben beider. Würde eine der Waagschalen jemals kippen, dann würde erst die eine Seite untergehen, und damit auch die andere vergehen, denn alleine können sie nicht sein. Lange Zeit konnte dieser finstere Pakt bewahrt werden, doch etwas war passiert, das dieses Gleichgewicht ins Wanken brachte. Der Kronprinz des Spiegelbildes tat einen unerlaubten Schachzug, holte sich einen Helfer von Außen. Seine Macht wuchs, und das Wahre Reich begann zu bröckeln. Die Wächter des Gleichgewichts versuchten, den Helfershelfer des Prinzen zu schwächen, ihn zum Straucheln zu bringen, ihn seiner neuen Verbündeten zu berauben, doch alles war umsonst. Er lernte zu schnell, wurde zu mächtig. Nun ist er mehr als sie alle zusammen und der Prinz hat beinahe gewonnen.
Der Prinzessin blieb keine andere Wahl, als selbst den Boten auszusenden, um das Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen. Es wird sich zeigen, ob der Bote seiner Bestimmung treu geblieben war oder nicht, ob er den Richtigen gefunden hatte, oder beide Reiche durch den Sieg des Prinzen zum Untergang verdammt sind.
Andy saß vor diesem Text und fragte sich, was das alles sollte. Das konnte doch nur ein Scherz sein! Wollte Alice ihm ein Märchen auf die Nase binden? Was für ein Unsinn! Und vor allem interessierte ihn das alles nicht ein bisschen. Er war wegen Elaine hier, um zu erfahren, was mit ihr geschehen war, und sollte sie tatsächlich tot sein, dann ihren Eltern die traurige Kunde überbringen, damit sie endlich Gewissheit hatten und sich Schritt für Schritt von ihrer Tochter lösen konnten. Dieser Blödsinn half ihm dabei nicht weiter. Es war vermutlich wesentlich sinnvoller, sich noch einmal mit Siren zu unterhalten. Sie hatte ihm zwar nicht viel gesagt, aber ihre wenigen Worte waren wesentlich eindeutiger und klarer gewesen, als dieses merkwürdige Gekritzel.
Für einen Moment drängte sich ihm wieder ein Teil seines Traums ins Bewusstsein, der androgyne junge Mann aus der Kneipe, der von einem Sturm gesprochen hatte. Ein merkwürdiger Zufall. Oder hatte womöglich einfach nur diese Alice ihre Finger im Spiel, die sich offensichtlich sehr viel Mühe gab, damit er das tat, was sie von ihm wollte. Auch wenn er sich nicht wirklich darüber im Klaren war, was sie genau wollte. Sollte er etwa gegen diesen Helfer des Prinzen antreten? Ihn vielleicht sogar töten? Er hatte das ungute Gefühl, dass Alice und die anderen Gestalten sich bestens aufs Töten verstanden. Nur dass er sich nicht unbedingt für einen Killer hielt, auch wenn er in der Lage war, mit Waffen umzugehen. Es waren immer noch Menschen, die Menschen töteten, und im Augenblick würde er sogar eine Wette, die auf Alice als Elaines Mörderin setzte, annehmen. Es gab immer noch zu viele Unbekannte. An einem weiteren Gespräch mit Siren führte kein Weg vorbei.
Andy zog sich seine Kleidung über, nahm seine Tasche und begab sich erneut nach unten, diesmal jedoch über die Treppe. Aus irgendeinem Grund war ihm der Aufzug suspekt geworden, auch wenn es ein ganz normaler Tag zu sein schien und er sich eigentlich keine Sorgen machen musste. Der Angestellte fragte ihn, ob er noch länger verweilen oder abreisen würde, und Andy wählte die erste Option. Dann fragte er nach einem Taxi – und oh Wunder, es gab sie doch! Eine Viertelstunde später hielt ein Fahrzeug vor dem Hotel, nahm Andy als Passagier auf und brachte ihn zum Humpty Dumpty.
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