Klaus Sehlmann klappte seinen Laptop zu, stand auf, nahm seinen Rechner in die Hand und machte sich auf den Weg in das Büro der beiden Kollegen.
Auch Max Lohr war mittlerweile zurück. Der Besuch in Dellbrück war ähnlich verlaufen wie die beiden vorherigen. Vom Vermissten nichts Neues, keine neuen Hinweise zu Tattoos, Narben, Verletzungen oder sonstige Neuigkeiten. Und als Beute Kamm, Zahnbürste und ein Paar Socken. Auch den Besuch beim Zahnarzt hatte er schon erfolgreich hinter sich gebracht. Die Materialien und die Zahnarztunterlagen von Kuchinski und Bender waren schon auf dem Weg in die Pathologie. Um die Adresse des Zahnarztes von Donner würde sich Frau Riedel, eine der Assistentinnen des Dezernats, kümmern, der er das Schreiben mit Moritz Donners Versicherungsdaten schon übergeben hatte. Frau Riedel würde auch versuchen, den Zahnarzt zu kontaktieren und die Unterlagen beschaffen. Sie würde den Zahnarzt bitten, diese zu ihren Händen an das Präsidium zu mailen oder einer von Frau Riedel geschickten Streifenwagenbesatzung zu übergeben. Die Unterlagen würden dann gleich per Transportfahrt oder Mail in die Pathologie gelangen, ohne dass der Kommissar sich selbst bemühen musste.
Die Besprechung, in der die Ermittler sich ein gemeinsames Bild über den derzeitigen Stand der Erkenntnisse verschafften, war zwar kurz, jedoch war es draußen bereits dunkel, als sie endete. Max Lohr hatte zwischenzeitlich auch bei Frau Riedel angerufen und erfahren, dass die Zahnunterlagen von Moritz Donner auf dem Weg in Pathologie waren. Der Zahnarzt hatte sich kooperativ gezeigt und die Papiere der Streifenwagenbesatzung übergeben. Sollte es sich bei dem Verstorbenen um einen der drei Kandidaten handeln, würden sie es innerhalb der nächsten Stunden erfahren. Da es sowohl für einen Besuch in der Pathologie, als auch für eine Besichtigung des Tatortes zu spät war, einigte man sich darauf, dass Max Lohr den Analytiker am nächsten Vormittag zu beiden Orten begleiten sollte. Und dann, Feierabend für heute. Klaus Sehlmann war das sehr recht, er hatte noch etwas vor.
Viel Presse hatte das Ereignis nicht bekommen. Über die Kurzmeldungen in der regionalen Presse hinaus blieb der Leichenfund unerwähnt. Er überlegte kurz, ob er versuchen wollte, dem Mord etwas mehr Medienpräsenz zu verschaffen, kam aber zu der Einsicht, dass es dramaturgisch und taktisch besser wäre, das Thema noch „klein zu halten“. Das würde den nächsten Schritt leider machen. Danach hätte er auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit als genug. Aber lange warten sollte er nicht mehr, je mehr die Polizei über das erste Opfer erfuhr, desto größer wurde die Gefahr für die Durchführung seiner nächsten Tat. Zwar hatte er die Kandidaten mit Bedacht ausgewählt, aber selbst Kommissar Zufall durfte nicht unterschätzt werden. Es wäre zu früh, wenn ihm die Jäger jetzt schon zu nahe kämen, er stand erst am Anfang. Er öffnete eine Datei auf seinem Laptop und scrollt durch die Zeilen. Es sollte wieder in der Nähe passieren überlegte er sich. Der optimale Ort für den nächsten Schlag. Die regionale Aufmerksamkeit wäre ihm auf jedem Fall sicher und schon ein weiterer Mord würde ihm dann die bundesweite Präsenz sichern. Er klickte auf einen Link in einer weiter rechts stehenden Spalte. Die elektronische Akte des nächsten Opfers flutete den Bildschirm. Er war gut vorbereitet.
Mit einem so frühen Feierabend hatte er gar nicht gerechnet. Deshalb hatte er mehr Zeit als genug. Das Hotel war nur wenige Minuten zu Fuß vom Präsidium entfernt, in einem erst kürzlich aus einer Industriebrache in ein neu erschlossenes Gewerbe- und Wohngebiet umgewandeltes Terrain. Der Vorteil der Nähe wurde allerdings durch die Ödnis der näheren Umgebung erkauft. Zwar waren es auch nur wenige Minuten zu Fuß zur nächsten Haltestelle, aber dieser Weg führte eben durch besagte Ödnis. Wenig Motivation an einem trüben Novembertag noch vor die Tür zu gehen. Es sei denn es gibt einen guten Grund. Erst 18:30 Uhr, noch viel Zeit bis zu dem verabredeten Termin. Klaus Sehlmann beschloss sich noch etwas hinzulegen, nur eine Stunde, dann blieb immer noch genug Zeit für eine Dusche, Anziehen und eine entspannte Fahrt zum Treffpunkt. Sicherheitshalber stellte er sich den Wecker auf seinem Smartphone auf 19:30 Uhr und legte sich auf das Bett.
Strecker blieb als einziger im Präsidium zurück. Wo sollte er auch hin? In seine kleine Wohnung auf der anderen Seite des Rheins? In einer eigentlich guten Gegend, in die er aber irgendwie nicht passte. Nicht mehr. Die Wohnungen in der Nachbarschaft waren in den vergangenen Jahren mehr und mehr von jungen Leuten bezogen worden. Studenten, die sich zu Wohngemeinschaften zusammenrotteten und junge Frauen und Männer, die es zum Arbeiten nach Köln zog. Die Mieten stiegen, die alten Mieter stiegen aus. Oder starben aus. Manche schafften es noch in ein Altenheim, viele siedelten jedoch direkt nach Melaten oder auf einen anderen Friedhof um. Da die neuen Mieter irgendwie nicht aus seiner Welt kamen, fanden soziale Kontakte so gut wie gar nicht statt. Eigentlich nur, wenn es mal wieder an der Zeit war, in den frühen Morgenstunden bei den Nachbarn Sturm zu klingeln, um sich über den Lärm einer weiteren nicht enden wollenden Party zu beschweren. Aber selbst diese Kontakte wurden in letzter Zeit seltener. Er war zermürbt, weder seine Marke noch die Aufforderungen und Ermahnungen seiner herbeigerufenen Kollegen von der Streife hatten zu einer nachhaltigen Lärmreduzierung geführt. Schließlich hatte er resigniert und hatte mehr und mehr bei diesen Gelegenheiten die sowieso nicht mehr vorhandene Nachtruhe abgebrochen und war in das Präsidium gefahren. Da sich auch die Kneipen rund um seine Wohnung vermehrt von Orten, in denen man in Ruhe sein Bier trinken konnte, in lärmende Sexualkontaktanbahnungsstätten verwandelt hatten, war das Präsidium auch an den Abenden zu seinem bevorzugten Aufenthaltsort geworden. In der hinteren Ecke des Büros gab es eine alte Couch, daneben eine unmodern gewordene, aber noch funktionsfähige Stehlampe. Kaffee und Wasser gab es in den Küchen auf den Fluren, der Wodka lagerte in seiner Schreibtischschublade, gleich hinter den Büchern, die er zum Zeitvertreib in Unmengen konsumierte. Da lag er nun, wie die meisten Abende, auf der Couch, beim Schein der Stehlampe, ein Buch auf dem Bauch in dem gläsernen Präsidium und nährte das Gerücht, er würde ununterbrochen arbeiten.
Nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt klingelte der Wecker. Gut, dass er ihn gestellt hatte, sonst hätte er wohl verschlafen. Klaus Sehlmann sprang aus dem Bett. Und unter die Dusche. 15 Minuten später stand er, durch den kurzen Schlaf und die Dusche erfrischt, mit frischen Sachen bekleidet, wohlgefällig vor dem Spiegel. Er schnappte sich den Mantel von der Garderobe, verließ Zimmer und Hotel und eilte durch den Nieselregen zur nächsten S-Bahnhaltestelle. Knappe 20 Minuten später betrat er die Eingangshalle des Hyatt Hotels. Da er etwas zu früh dran war, nahm er noch in einer Sitzgruppe in der Halle Platz. Er wählte einen Sessel, der ihm gute Sicht auf den Eingang und den Empfangstresen bot. Versteckt hinter einem Magazin beobachtete er das Treiben im Hotel.
Pünktlich um 20:30 Uhr kam sie durch die Eingangstür. Hatte sie ihn am Nachmittag schon sprachlos gemacht, raubte sie ihm jetzt den Atem. War es das etwas stärkere Make-Up, die fehlende Brille, die aufwändigere Frisur oder doch die endlos scheinenden schlanken Beine, die zwischen den Stilettos und dem Rand ihres kurzen Mantels sichtbar waren. Er sprang auf und eilte ihr entgegen.
„Frau Meier-Uhland, sie sehen fantastisch aus“. Nicht mal eine Begrüßung hatte er zustande bekommen, so hin und weg war er.
„Barbara bitte“, antwortete sie. „Kommen Sie, gehen wir noch kurz an die Bar. Ich habe uns einen Tisch für neun Uhr reserviert!“
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