„Oder er hat sie für sich behalten“ ergänzte Lohr. „Gehen wir uns auch einen Kaffee holen. Bis der alte Brummbär zurück ist, können wir nicht viel tun. Beziehungsweise sollten wir nicht viel tun. Weil wir sonst zu viel falsch machen“.
Einige Minuten später, sie saßen noch Kaffee trinkend im Büro der Kölner Kommissare, kam Strecker zurück.
„Na, endlich fertig mit den Hausaufgaben?“, warf er jovial in den Raum.
„Dann können wir ja den Rest des Tages verplanen. Wir zwei“ sagte er in Richtung Lohr „teilen uns die Figuren auf und interviewen sie. Verdächtige oder diejenigen, die uns mehr erzählen sollten, bestellen wir für eine zweite Runde in das Präsidium. Zwischenzeitlich kann der Herr Analyst weitere Informationen zusammentragen. Über die Personen selbst bzw. über ihre bevorzugten Aufenthaltsorte oder Personen, Vereine, Gruppierungen mit denen sie verkehren. Nun Kollege Lohr, irgendwelche Präferenzen?“.
„Nicht direkt, aber fünf der Personen wohnen in Mülheim. Deren Besuche ließen sich fußläufig erledigen. Der Rest verteilt sich über ein größeres Gebiet“.
„Dann nehme ich den Spaziergang. Ich gehe nochmals für kleine Jungs. Sind sie so nett und drucken mir deren Profile aus?“, sagte Strecker, erhob sich und verließ den Raum.
Den Nachmittag verbrachten sie mit den Befragungen der auf der Liste von Frau Beu stehenden Personen. Sie hatten sich für den morgigen Vormittag verabredet, um ihre Informationen auszutauschen und das weitere Vorgehen abzustimmen.
Das war in etwa zu der Zeit, als der Mörder für die nächste Mission packte und sein letztes Opfer nur noch darum betete, dass es endlich vorbei sein würde.
Den Vormittag hatte er damit zugebracht, sich auf den nächsten Schritt vorzubereiten. Er hatte vor seinem Laptop gesessen. Zuerst hatte er die Aufnahmen von der Kamera auf die Festplatte überspielt. Dann hatte er sich dem Material zugewandt, das er über sein nächstes Opfer gesammelt hatte. Auch dafür war alles vorbereitet. Er hatte sein Opfer sorgfältig ausgewählt. Das wesentliche Kriterium bei der Auswahl war der Ort. Bereits das zweite Opfer würde aus dem lokalen Ereignis ein regionales Problem machen. Das Thema würde sich ausweiten. Weitere Ermittler und Behörden würden involviert. Weitere Medien würden berichten. Erste Ängste, ob sich das Problem weiter ausweiten würde, dürften entstehen. Aber erst der nächste Fall würde die Gewissheit bringen. Es geht um eine Serie oder noch schlimmer, den Beginn einer Serie. Und das Problem wäre nicht lokal, nicht regional ; es wäre deutschlandweit. Die Behörden würden auf Bundesebene ermitteln müssen. Die bundesweite Medienpräsenz war ihm sicher. Das Thema würde aus dem Verborgenen an das Licht gezerrt. Das würde neue Facetten zum Vorschein bringen und vielleicht, vielleicht würde es der Weg sein, um die Bedrohung zu besiegen.
Er würde noch am heutigen Nachmittag nach Hamburg fahren. Eine Pension im alten Land beziehen, sich ausschlafen und die Sache bereits am morgigen Tag zu Ende bringen. Zumindest den Anfang des Endes einleiten.
Es würde wieder ein Heimspiel werden. Doch das Risiko war dieses Mal viel höher. Der junge Mann, ca. Anfang 20, wohnte noch bei seinen Eltern. In einem Gartenhaus auf dem Grundstück, in dem auch das Haus stand, das auch seine Eltern bewohnten. Sofern sie nicht vereist waren. Und im Moment waren sie verreist, denn sein Vater hatte derzeit einen Job in den Staaten. Wenn seine Informationen stimmten, würden er und seine Frau frühestens in drei Monaten zurückkehren. Natürlich würde er als Erstes überprüfen müssen, ob seine Informationen korrekt sind. Ob das Haus wirklich unbewohnt war.
Der junge Mann selbst studierte an der Universität in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Was man so studieren nennt. Auf dem Campus war der junge Mann selten anzutreffen. In den angesagten Clubs war er schon häufiger. Aber nicht regelmäßig. Deshalb würde auch er nicht sofort vermisst werden. Er hätte sicher ein paar Tage Zeit. Zeit, um ungestört zu sterben.
Das hoffentlich größte Problem hatte er schon gelöst. Eine reiche Familie, ein großes Haus, auf einem riesigen Grundstück. Das musste gesichert werden. Das bedeutete hohe Mauern oder Zäune, Kameras, eine Alarmanlage. Vieles was ein Heimspiel schwierig machte. Er hatte viel Zeit investieren müssen, um das Haus und seine Bewohner zu beobachten. Um ihre Gewohnheiten zu studieren. Ihren Rhythmus zu erkennen. Schwachstellen zu entdecken und eine Lösung zu finden. Stunden hatte er in seinem Bus oder in Leihwagen gesessen. Weil der Bus auf Dauer zu auffällig gewesen wäre. Oder war in der Gegend spazieren gegangen, hatte sowohl den Haupteingang als auch den Nebeneingang beobachtet. Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Er hatte schon mehr als zwei Wochen in die Beobachtung investiert. Er war fast versucht aufzugeben. Einen anderen Kandidaten zu finden. Es gab ja genug. Aber andererseits, er hatte ihn unbedingt haben wollen. Er war ideal. Er entsprach seinem Beuteschema in nahezu allen Kriterien.
Dann, eines Morgens kamen Handwerker und tauschten das Schloss am Hintereingang aus. Sie installierten eine moderne Schließanlage, eine für die man keinen Schlüssel mehr benötigte, die man mit einem Code öffnen konnte.
Nun brauchte er sich nur noch auf die Lauer zu legen, eine Kamera zu installieren und zu positionieren, die das Tastenfeld scharf fokussierte. Und siehe da. Schon am zweiten Tag war das Hausmädchen unvorsichtig genug, den Code so einzugeben, dass die Kamera ihre Finger deutlich im Bild hatte. Auch ohne Zeitlupe war der eingegebene Code deutlich erkennbar. Vierstellig. Einfach zu merken. Aber natürlich würde er vor der Tat noch prüfen müssen, ob der Code sich zwischenzeitlich verändert hatte. Und er musste sicherstellen, dass es keine Kameras gab, die die Personen, die die Tür durchquerten, aufnahmen. Zumindest würde er sich verkleiden müssen. Besser noch wäre es, gemachte Aufnahmen zu löschen. Dazu müsste er aber wissen, wo sie gespeichert wurden. Wie man an die Aufzeichnungen herankam. Wie man sie unbrauchbar machen oder löschen konnte. Er würde dazu Informationen brauchen. Aber er würde ja einen Informanten haben. Und er würde Mittel und die Zeit haben, ihn zu motivieren, ihm die Informationen auch zu geben. Aber etwas mehr Zeit als bei der letzten Aufgabe musste er schon einplanen.
Als sich die Kölner Ermittler und der Fallanalyst wieder im Präsidium trafen, um die Ergebnisse zu den Befragungen der Personen auf der von Frau Beu erstellten Liste zu besprechen, war es bereits Freitagmorgen. Sie hatten am Vortag bis in die späten Abendstunden gearbeitet. Verzweifelt nach Parkmöglichkeiten gesucht, sich die Füße wund gelaufen, vor Haus- und Wohnungstüren gewartet, waren Treppen gestiegen, in verdreckten Fahrstühlen gefahren und immer wieder hatten sie die gleichen Fragen gestellt. Und viel aufgeschrieben, dokumentiert. Zumindest Max Lohr hatte auch Letzteres getan. Hauptkommissar Strecker hatte sich das meiste nur gemerkt, nur wenige Notizen gemacht, aber selbstverständlich nichts in der Fallakte vermerkt. Zumindest bis jetzt.
Klaus Sehlmann hatte die Informationssysteme der Polizei und das Internet durchforstet, nach Namen, Organisationen und Verbindungen geforscht. Und jetzt, nachdem sie sich über ihre Bemühungen ausgetauscht hatten, mussten sie feststellen, dass sie zwar viele Informationen gesammelt, aber keine wesentlichen Erkenntnisse gewonnen hatten.
Die Schnittmengen der Betroffenen waren, neben „Harry´s Schenke“, der Fußballverein „Germania Mülheim“ und eine politische Gruppierung namens „Bürger für Köln“. Neben dem Beisammensein in der Kneipe traf man sich auf dem Fußballplatz, entweder bei den Spielen einer der Mannschaften der Germania oder montags zum gemeinsamen Freizeitkick. Viele hatten früher aktiv bei der Germania gespielt. Auch an den zahlreichen Zeltlagern, vorzugsweise in der Wahner Heide, hatten über die Jahre nahezu alle mehr oder weniger regelmäßig teilgenommen. Ein harter Kern trainierte „das Krieg spielen“ häufiger mit Softair-Waffen in einer Halle. Politisch waren viele an zahlreichen Demonstrationen der politischen Rechte in Köln und dem näheren Umland beteiligt gewesen oder hatten entsprechende Petitionen unterzeichnet. Sie waren häufig dabei, spielten aber offenbar keine führende Rolle. Auch in den sozialen Netzwerken waren die meisten engagiert. Vernetzt über Fatelog, Facebook oder WhatsApp. Natürlich sonderten sie dort auch entsprechende Kommentare und Meinungen ab.
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