Sein Körper war hager und ausgemergelt und bei genauerer Betrachtung war er zu schmächtig, um sich als Knecht zu verdingen. Auch seine Kleidung war dafür viel zu tadellos, denn er trug eine schwarze Gewandung aus Samt oder zumindest samtähnlichen Tuchen sowie Reiterstiefel aus dazu passendem dunklem Leder.
Mit einem Mal fiel es Aldrĭn wie Schuppen von den Augen. Rovinjas aufgebrachter wie heimlicher Aufbruch, das Treffen in einer der Seitengassen, der fremde Jüngling.
Sie hat sich verliebt, dachte Aldrĭn und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte ihr also nachgestellt, obwohl sie bloß ihre kindliche Verliebtheit vor ihm hatte verbergen wollen. Ob Juliana wohl eingeweiht war? Der Bursche sah ja zumindest ganz passabel aus, nicht irgendein dahergelaufener Taugenichts, ein Spieler oder Tagelöhner, der sich am nächsten Morgen wieder auf und davon machen würde. Viele dieser selbsternannten Glücksritter trieben sich in letzter Zeit in den Dörfern und Städten von Dysthirthéth herum.
Zuerst war Aldrĭn befremdet von der Vielzahl junger Männer gewesen, die so ziel- wie mittellos aus allen Winkeln des Reiches gezogen kamen und den Mädchen in den Dörfern schöne Augen machten. Er hatte nicht verstehen können, wie sehr sich die Zeiten geändert haben mussten, dass solch eine Lebensführung auf einen Schlag eine ganze Generation begeisterte, zumal sie mehr als fragwürdig war.
Doch dann war ihm klar geworden, dass es sich zumeist um junge Kerle handelte, die im Krieg ihren Vater und vielleicht die Mutter, manchmal sogar die ganze Familie verloren hatten und nun herumzogen, da sie kein Erbe anzutreten hatten und zuhause keine Verpflichtungen auf sie warteten.
Seitdem ihm dieser Umstand bewusst geworden war, empfand Aldrĭn regelrecht Mitleid mit den jugendlichen Landstreichern. Eine Generation junger Männer war herangewachsen, die keinerlei Vorbilder in ihrer Kindheit gehabt hatte und beinahe von Geburt an auf sich allein gestellt war.
Doch trotz aller Anteilnahme sollte seine Tochter nicht in die Finger eines solchen Tunichtguts geraten! Dieser dort aber schien nicht aus mittellosen Verhältnissen zu stammen und das war ja schon mal etwas. Als er all dies so bei sich bedacht hatte, fiel ihm ein Stein vom Herzen und Erleichterung überkam ihn. All sein Unbehagen war umsonst gewesen. Gut gelaunt wollte er sich gerade einem Tisch mit Backwaren zuwenden, als das Geräusch aufschlagender Pferdehufe auf den Marktplatz drang und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog.
Ein brauner Halmgarther trabte auf den Platz und Aldrĭn fühlte sich unweigerlich an Dirions altes Pferd erinnert. Doch dieses Tier konnte es nicht mit Vyliss‘ Eleganz aufnehmen. Es schien gebrechlich und ungepflegt, umso seltsamer wirkte das Erscheinungsbild des Reiters, den es trug.
Ein Mann mittleren Alters, mit vollem Bart und langem, schwarzem Haar, gekleidet in fürstliche Gewandung, sah hochmütig und abschätzig auf die Menschen Skaldbachs hinab. Ihm folgten zwei weitere Reiter, die jedoch ungleich abgerissener erschienen und im Gegensatz zu ihrem Herrn nicht den Anschein von Stolz im Antlitz trugen. Vielmehr blickten sie wie zwei minderbemittelte Schläger drein, bemerkte Aldrĭn. An ihren Gürteln trugen alle drei Männer lange Schwerter und die Hinteren waren in Kettenhemden gekleidet, was bei ihrem Anführer zumindest nicht erkennbar war.
Er trug ein weites Hemd in strahlendem Weiß, über dem ein ebenso weißer, jedoch mit goldenen Pailletten besetzter Umhang wallte. Aldrĭn erkannte den Mann und seine Miene verfinsterte sich. Es war der Ritter Halldor Granciël, früher einmal ein treuer Gefährte und Lehnsmann des Baldur von Klyenna. Er hatte in der letzten Schlacht gegen die Triganer an Dirions Seite das Lager an der Warge gehalten.
Nach dem Krieg, als das Königreich zerfallen und zwischen Menschen und Elben neu aufgeteilt worden war, hatte Halldor dem Rat von Albenbrück entsagt und seine Burg im Norden des Landes gewaltsam von den Hochlandelben zurückgenommen. Es hatte damals einen großen Aufschrei gegeben, denn niemand in Albenbrück hatte es gewagt, den blutrünstigen Ritter davon abzuhalten, die Elben in seiner Burg ausnahmslos abzuschlachten.
Siebzehn Jahre waren seither vergangen und noch immer führte Halldor ungestraft sein Unwesen im hohen Norden. Er überfiel Bauernhöfe, plünderte Reisende und ließ keine Gelegenheit aus, gegenüber den Elben seine grenzenlose Grausamkeit unter Beweis zu stellen. Jeder wusste es, doch niemand klagte ihn deswegen vor dem heiligen Gericht in der Hauptstadt an.
Solange er dabei den anderen Fürsten nicht ihr Herrschaftsgebiet strittig machte, die im Albenbrücker Rat saßen, schienen diese es nicht für nötig zu erachten, gegen den Raubritter vorzugehen. Natürlich waren Warnungen ausgesprochen worden, man drohte ihm mit dem Exil und verbannte ihn schließlich sogar aus dem Orden.
Jeden anderen Ritter hätte dies tief in seiner Ehre verletzt, doch Halldor besaß derer ohnehin kein bisschen, mutmaßte Aldrĭn, weswegen ihn diese Sanktion gänzlich unbeeindruckt gelassen hatte. Er führte weiterhin sein Leben als reueloser Tyrann und spielte sich in den Dörfern, die seinem Herrschaftsgebiet anlagen, auf, als sei er der eigentliche Fürst des Landes.
Möglichst unauffällig versuchte Aldrĭn, sich außer Sichtweite des Raubritters zu bewegen, um nicht erkannt und in irgendeine Auseinandersetzung mit dem verkommenen Geschöpf zu geraten. Womöglich würde er ihn gar nicht mehr erkennen. Sein blondes Haar war kürzer als vor siebzehn Jahren, dafür bedeckte ein zarter Bart sein Gesicht und die Landarbeit hatte seine Muskeln gestählt und seinen Körper härter und kantiger werden lassen.
Halldor machte neben dem Brunnen auf der Platzmitte halt und stieg schwungvoll von seinem Ross ab. Dann richtete er sich mit stolz erhobenem Kinn auf, die rechte Hand auf den Knauf seines Schwertes gelegt, und stolzierte auf einen der Stände zu. Sein Blick wanderte mit der gleichen Geringschätzung über die Menschen wie bei seinem Einritt.
Aldrĭn schien er entweder nicht zu sehen oder nicht wiederzuerkennen, zumindest ging er unbeirrt weiter und blieb schließlich vor einem Stand mit Fischen stehen. Dort hatte soeben die alte Frau ihre Waren abgeladen, der Aldrĭn auf dem Weg zum Markt begegnet war. Halldor zeigte wortlos auf einige der edleren Exemplare, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, und sofort kam einer seiner Handlanger herbeigeeilt, um den Fisch in einen mitgebrachten Ledersack zu stopfen.
Während der Raubritter vor Aller Augen seinen Diebstahl vollführte, herrschte eine angespannte Stille auf dem Platz. Nur das Kreischen der Möwen und das regelmäßige Hämmern des Schmiedes in einer der Nebenstraßen durchbrachen das Schweigen.
„Eine Frechheit, die sich dieser Teufel erlaubt“, knurrte der Händler, vor dessen Bude Aldrĭn stand, „man sollte ihm den Hals umdrehen.“ Aldrĭn gab keine Antwort, innerlich stimmte er dem Mann jedoch von ganzem Herzen zu. In manchen Augenblicken grämte es ihn, dass er seine Macht als Thronfolger vertan hatte, hätte er sie doch allzu gern darauf verwendet, um solche Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Während er spürte, wie der Zorn in ihm aufwallte, sah er erstmals wieder hinüber in die Gasse, wo er Rovinja entdeckt hatte. Er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass sie sich in der Nähe des ehrlosen Halldor aufhielt. Doch ehe er sie im Schatten der Häuser ausmachen konnte, schritt der Ritter geradewegs in seine Richtung.
Halldor betrachtete mit einem Ausdruck größten Desinteresses die Waren auf den Tischen, an denen er vorbeiging. Doch in seinen Augen konnte Aldrĭn das gierige Blitzen eines Räubers sehen. Der Ehrlose schien es zu genießen, sich von jedem Ort zu jeder Zeit nehmen zu können, was er begehrte.
Nach Skaldbach verschlug es ihn glücklicherweise ausgesprochen selten, da es für einen kurzen Ausritt zu weit im Osten des Landes lag. Doch wenn er dem Dorf einen Besuch abgestattet hatte, dann niemals, ohne den bitteren Hass all seiner Bewohner auf ihn noch vermehrt zu haben.
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