„Freilich“, gab der Elb zurück, ohne die Augen zu öffnen, „das holde Weib ist bei den Tieren auf der Weide, das Würmchen hat sie mitgenommen. Und das Töchterchen ist geradewegs an meinem Zaun vorbei in Richtung des Marktes stolziert. Wenn sich meine alten Äuglein nicht ganz irren, so schien sie in Aufruhr zu sein.“
Schmunzelnd bedankte sich Aldrĭn und ging wieder in seine Behausung, um sich weiter anzukleiden. Bei aller eigenbrötlerischen Art seines elbischen Nachbarn freute es ihn doch, dass dieser mit ihm redete, als sei er irgendein Bauer aus dem Dorf. Die anderen Menschen in Skaldbach hingegen hatten auch nach siebzehn Jahren, die er nunmehr mit Juliana hier lebte, scheinbar nicht ganz akzeptieren können, dass es einen Prinzen in ihr verschlafenes Nest am See Bengadesch gezogen hatte. Sie behandelten ihn nicht wie einen von ihnen, sondern begegneten ihm meistens mit besonderer Höflichkeit und Unterwürfigkeit. Dadurch konnte er auch nie eine zwanglose und unbeschwerte Plauderei mit ihnen führen, obwohl er wusste, dass die Skaldbacher derartige Unterhaltungen so liebten.
Während er sich sein sandfarbenes Leinenhemd überzog und in die Lederstiefel schlüpfte, betrachtete er argwöhnisch die Truhe unter dem Fenster. Darin lagerte alles, was ihn noch mit der Vergangenheit verband. Und zugleich alles, was ihn von den anderen Bürgern des Dorfes unterschied.
Als er zusammen mit Juliana das Königsschloss in Albenbrück verließ, nahmen sie von allen Reichtümern aus der Schatzkammer nichts als diese eine Truhe mit. Bis unter den schweren, gewölbten Deckel war sie voll mit Goldmünzen und man hätte damit ohne weiteres ganz Skaldbach kaufen können. Doch als das frisch vermählte Paar vor siebzehn Jahren gen Norden aufbrach, konnte ihnen niemand am Hofe sagen, wie viel Gold sie mit sich führen müssten, um einen kleinen Hof zu pachten und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Noch dazu kündigte sich ein Kind an, welches die werdenden Eltern zur größten Vorsicht greifen ließ, sodass Juliana und Aldrĭn auf einen Schlag die wahrscheinlich reichsten Skaldbacher aller Zeiten waren.
Niemand wusste von der Truhe, doch tat dies ihrem Ruf im Dorf keinen Abbruch, denn schon nach wenigen Tagen wusste jede der vierhundert Seelen bescheid, woher die neuen Nachbarn gekommen waren. Oben auf den Münzen, in eine lederne Scheide geschoben und mit Tuchen umwickelt, schlummerte Galyndúr, das Elbenschwert.
Dieser unermessliche Reichtum stand ironischerweise gänzlich ungeschützt im Schlafzimmer herum, nur von den dicken Eichenwänden der Truhe geschützt, sowie einem eisernen Vorhängeschloss, dessen Schlüssel Aldrĭn unter einer der Dielen im Küchenboden versteckt hatte. Doch so bleischwer war der Inhalt, dass Aldrĭn sich sicher war, dass selbst dann, wenn jemand auf die Idee käme, in das unscheinbare Bauernhaus einzubrechen, derjenige schon die Kräfte eines Trolls besitzen müsste, um die Truhe auch nur einen Zoll weit zu bewegen.
Jetzt, wo er sich vorstellte, wie das heilige Schwert dort in seinem düsteren Verlies ruhte, überkam ihn wieder das beklemmende Gefühl, welches der Traum hinterlassen hatte.
Das Töchterchen war in Richtung des Marktes stolziert, wiederholte Aldrĭn innerlich die Worte des Elben, und sie war in Aufruhr. Auch wenn es ihm an Feingefühl mangeln mochte, so hatte der alte Elb doch meist Recht gehabt, was seine Beobachtungen anbelangte. Wenn Rovinja tatsächlich aufgebracht in Richtung des Marktplatzes gegangen war, so war es Atli Puk nicht entgangen. Der Gedanke beunruhigte Aldrĭn. Was hatte seine Tochter dazu veranlasst? Juliana hatte sie doch sicherlich darum gebeten, ihr auf der Weide zu helfen! Und nur eine triftige Ausrede hätte Rovinja davor bewahrt, ihrer Mutter zu folgen, das hoffte Aldrĭn zumindest.
„Das Würmchen hat sie mitgenommen“, wiederholte Aldrĭn murmelnd und musste grinsen, denn in mancherlei Hinsicht schien Atli Puk seiner Zeit lange hinterher zu sein. Das Würmchen, das auf den Namen Galeon hörte, war inzwischen immerhin sechs Jahre alt und wuchs zu einem prächtigen Knaben heran. Galeon hatte das blonde, krause Haar und die wachen Augen seines Vaters, doch sein Gemüt war von energischer und wissbegieriger Natur, worauf offensichtlich Juliana einen großen Einfluss gehabt hatte.
Rovinja hingegen war ein Kind gewesen, dessen Charakter weder dem seiner Mutter besonders geähnelt hätte, noch dem seines Vaters. Ihr waren die edlen und gleichmäßigen Züge von Juliana gegeben, ebenso war ihr Körperbau schlank und elegant wie der ihrer Mutter und das glatte, dunkle Haar, welches sie meist offen über die Schultern fallen ließ, war ganz deutlich ein Erbe von Juliana. Doch schlug ihr Herz in einem Takt, der Aldrĭn manchmal absonderlich erschien. Sein eigenes Kind kam ihm von Zeit zu Zeit erschreckend fremd vor. Seitdem Rovinja lesen konnte, und das hatte sie schon im erstaunlichen Alter von fünf Jahren erlernt, verschlang sie die Schriften und Berichte, in denen Abenteurer ferne Gestade erkundeten und fremde Welten entdeckten.
Einer ihrer liebsten Schreiber war der Gelehrte Amhuin von Albenbrück, der vom Ende der Erdscheibe berichtete, wo grässliche Ungeheuer und Dämonen lebten, aber auch Elben und Lichtgestalten von unglaublicher Schönheit. Je älter das Mädchen wurde, desto größer schien das Fernweh in ihr heranzuwachsen und eine unsichtbare Macht zog sie zu ihren Helden in die unergründlichen Weiten fremder Welten.
Tatsächlich bemerkte Aldrĭn in ihrem unsteten wie träumerischen Wesen wenig Verwandtschaft zu sich selbst, doch mehr noch erinnerte es ihn an jemanden, der sein Leben schon vor langer Zeit verlassen hatte: Dirion. Ja, er hatte regelrecht das Gefühl, dass die Seele seines Bruders in diesem Mädchen weiterlebte und es erwärmte im selben Maße sein Herz, wie es ihn fürchtete.
Das geistige Erbe ihres Onkels war somit ein Grund mehr, ein wachsames Auge auf sie zu haben. Aldrĭn legte sich seinen Gürtel an und verließ das Haus. Inzwischen hatte die Sonne sich über den Bergen im Osten erhoben und ließ die weißen Wände des Fachwerkbaus erstrahlen und sogar das Reetdach schien in seinem schönsten Gelb die Farbe der Sonne selbst zu spiegeln.
Aldrĭn ließ seinen Blick prüfend über das Dach wandern. Er hatte es erst im vergangenen Jahr neu gedeckt, weil es im Unwetter große Schäden genommen hatte, doch schon jetzt hatten die Witterung und Moosflechten es an einigen Stellen fleckig werden lassen. Als er den Gartenzaun hinter sich schloss und den Feldweg betrat, der hinab in das Dorf führte, rief er seinen sonnenbadenden Anrainer wieder auf den Plan.
„Ihr könnt das junge Ding wohl nicht seiner Wege ziehen lassen, was? Das Küken ist flügge, mein lieber Herr!“, rief Atli Puk von seinem Verandaplatz hinüber.
„Passt lieber auf, dass Euch die Sonne nicht zu sehr auf euren kleinen Kopf brennt“, entgegnete Aldrĭn gereizt, „der Geist nimmt sonst womöglich Schaden.“ Kopfschüttelnd stapfte er den breiten Sandweg hinunter, ohne dem Elben weiter Aufmerksamkeit zu schenken.
Doch innerlich schalt er sich für seine Unfreundlichkeit. Denn Puk hatte Recht gehabt, was tat er denn eigentlich? Was genau veranlasste ihn dazu, seiner Tochter auf den Markt zu folgen, nur weil er nicht wusste, was sie dort vorhatte? Immerhin war sie beinahe erwachsen.
Beinahe ist aber eben nicht ganz, sagte eine Stimme in Aldrĭns Kopf, die keine Widerrede zuließ und beendete damit seinen inneren Disput. Noch immer war sein Herz von der kalten Beklommenheit erfasst, die der schreckliche Traum mit sich gebracht hatte. Der Feldweg führte Aldrĭn von seinem Grundstück, das etwas oberhalb des Dorfzentrums auf einem Hügel lag, hinab auf den Marktplatz.
Skaldbach war ein einfaches Dorf, das wie Dutzend andere im Norden des Reiches aufgebaut war. Die meisten der Fachwerkhäuser waren rings um den Markt angeordnet, auf dem die Menschen ihre Waren feilboten. Da fast alle Skaldbacher vom Fischfang oder der Landwirtschaft lebten, häuften sich auf den Ständen und Wagen der Händler auch hauptsächlich Feldfrüchte und Fisch. Zusammen mit dem gemauerten Brunnen in der Mitte des Platzes stellten sie die Ernährung des gesamten Dorfes sicher.
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