Um den Ring der Häuser, die unmittelbar an den Markt angrenzten, führte eine kopfsteingepflasterte Straße, an die eine zweite Reihe von Häusern anlag. Alle anderen Bürger des Dorfes hatten ihre Behausungen an kleineren Wegen, welche aber allesamt ebenfalls dem inneren oder äußeren Ring zugeführt wurden, sodass die Siedlung aus der Perspektive eines Vogels gesehen wie eine unsauber gezeichnete Sonne aussehen mochte.
Die Kate von Juliana und Aldrĭn lag an eben einem jener Arme, sodass sie nicht unmittelbar vom Trubel des Dorfgeschehens betroffen waren, es jedoch nur ein Katzensprung bis in sein Inneres war. Im Süden grenzte das Dorf an den See Bengadesch, den „Grenzenlosen“, das größte stehende Gewässer des ganzen Reiches. Jetzt funkelten die seichten Wogen des Sees und verliehen ihm etwas Magisches.
Aldrĭn fühlte sich an den Ausblick aus dem Schloss in Albenbrück erinnert, von wo aus er das Meer im Osten an ungezählten Morgen in einem ebensolch prachtvollen Funkeln betrachtet hatte. Vielleicht war es ihm auch deshalb so leicht gefallen, diesen Ort als seine neue Heimat anzunehmen, weil ihm mit den Bergen im Rücken und dem Wasser zu seinen Füßen etwas Vertrautes innewohnte. Er ging zwischen den Häusern des äußeren Straßenringes hindurch, die einen kühlen Schatten auf den Weg warfen. Die Geräusche des Treibens auf dem Markt drangen an sein Ohr. Von dem Gemurmel einer Ansammlung von Menschen hoben sich einzelne Stimmen ab, die lauthals ihre Ware anpriesen. Dazwischen hörte man das Lachen und Weinen kleiner Kinder, sowie den regelmäßigen blechernen Klang eines Schmiedehammers, der auf Metall geschlagen wurde. Der Duft von frisch gebackenem Brot stieg Aldrĭn in die Nase.
Auf der Pflasterstraße kam ihm eine alte Frau entgegen, die mühsam einen klapprigen Handkarren hinter sich herzog. Darauf lagen Rotaugen, Zandern, Saiblinge und natürlich Benga-Forellen übereinander gehäuft. Der morgendliche Fang war offenbar üppig ausgefallen und nun brachte die Fischersfrau die Früchte des Sees zum Markt. Die kreischenden Möwen, die nur wenige Häuser entfernt am Himmel kreisten, zeugten davon, dass die Fischer gerade ihre Netze reinigten und zum Trocknen aufhängten.
Immer, wenn ein Lebewesen sich darin verfangen hatte, das zu klein zum Verkaufen war, wurde es von den Möwen verwertet und manchmal besaßen die Vögel sogar die Dreistigkeit, sich einen der größeren Fische vom Karren zu stehlen. Aldrĭn wünschte der Alten einen guten Tag und sie erwiderte den Gruß mit einem zahnlosen Lächeln.
Schließlich erreichte er den Marktplatz. Im Kreis angeordnet stand ein Dutzend Verkaufsplätze, einige nur einfache Klapptische, andere breite Theken, die von einem Baldachin vor der Sonne geschützt wurden oder gar hölzerne Buden, in denen Händler ihre Ware anboten. Obwohl er den kleinen Markt urig und gemütlich fand, hielt sich Aldrĭn selten hier auf, weil schlicht die Notwendigkeit dazu fehlte. Juliana und er hatten es sich bei ihrem Abschied von Albenbrück zum Ziel gesetzt, ein Leben zu führen, das sie unabhängig machte.
Nicht nur unabhängig von den Verpflichtungen, die sie als Regenten erwartet hätte. Sondern auch unabhängig davon, ob das Korn teurer wurde, ob der Fischer einen guten Fang gemacht hatte oder ob die Warenlieferungen aus dem Süden ausblieben.
Der prächtige Bauerngarten, welcher die Kate umgab, versorgte sie beinahe das ganze Jahr über mit Feldfrüchten. In einer Stallung, die an das Haus angrenzte, lebten drei Schweine und einige Hühner. Außerdem gehörte ihnen die kleine Weide mit Namen Engenshöh, nur zwei Meilen nördlich auf einer Anhöhe gelegen, auf der sie einige Schafe und Ziegen hielten.
Zwischen der Engenshöh und der Kate verlief die Riemsbeek, ein breiter Bachlauf, der schließlich in den Bengadesch mündete. Hier hatte Aldrĭn seit Jahren Reusen ausgelegt, die er täglich überprüfte. Zwar gab es oft mehrere Tage, an denen sich kein Fisch hinein verirrte, doch mit der nötigen Geduld fand er immer ein paar Bachforellen oder sogar Aale in den Netzen.
Dadurch, dass Juliana und Aldrĭn sich mehrere Quellen erschlossen hatten, um die Familie zu ernähren, hatte das junge Paar sich seinen Traum der Unabhängigkeit nach wenigen Monaten im neuen Heim erfüllt. Das Korn, welches sie ernteten, mussten sie natürlich noch immer zum Müller bringen. Und auch wenn Gerätschaften zu Bruch gingen, führte kein Weg am Schmied vorbei.
Doch im Gegensatz zu vielen anderen Skaldbachern lebten sie hauptsächlich von ihrer eigenen Ernte. Einen Unterschied machten natürlich die beiden großen Höfe, einer davon war im Westen und einer im Norden der Siedlung gelegen. Sie waren seit Generationen schon im Besitz der Familien reicher Großgrundbesitzer. Im eigentlichen Sinne gehörten sie nicht einmal zu Skaldbach, sondern bildeten vielmehr ihre eigene abgeschlossene Welt. Doch da beide Höfe ihre überschüssige Ernte ebenfalls auf dem Marktplatz verkauften und ihrerseits wiederum Waren erwarben, an denen es ihnen selbst mangelte, waren die Großbauern, ihre Familien und ihre Knechte und Mägde fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft.
Gerade fuhr ein Wagen mit einem kräftigen Ochsen davor von einer der Seitenstraßen auf den Platz ein und Aldrĭn erkannte einen der Knechte vom Hof im Norden, den man Erincshof nannte. Neben diesem saß ein junger Mann auf dem Kutschbock, den Aldrĭn nicht kannte, sicher ein neu angeworbener Arbeiter aus einem der benachbarten Dörfer. Der Wagen kam zum Stehen und sofort eilten zwei Knaben herbei, die beim Entladen des Karrens halfen.
Aldrĭn ließ seinen Blick über den Markt wandern. Als er Rovinja an keinem der Stände entdecken konnte, erfüllte es ihn auf einmal mit Scham, dass er ihr derart vertrauenslos hinterhergegangen war. Es bestand doch gar kein Grund zur Sorge! Noch nie hatte sie sich mit irgendeinem der Dorfbewohner Ärger eingehandelt, im Gegenteil, sie war trotz ihrer zuweilen verschlossenen Art bei jedermann gern gesehen.
Um seine Torheit nicht länger vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, entschied er sich dafür, wenigstens ein paar Besorgungen zu machen. Er schlenderte zu einem Tisch, auf dem verschiedene Werkzeuge auslagen und musterte die Stücke. Während er gedankenverloren mit den Fingern über das Eisen fuhr, fiel sein Blick plötzlich auf zwei Personen, die in einer der Gassen standen, welche auf den Marktplatz zuliefen.
Bei der einen handelte es sich um eine Frau in einem moosgrünen Kleid mit den Ärmeln eines weißen Mieders. Sie war von Aldrĭn abgewandt und sah in Richtung des Mannes, welcher ihr gegenüberstand. Bei diesem handelte es sich um den Jüngling, der eben gerade erst mit dem Ochsenkarren auf den Platz gekommen war. Aldrĭn erkannte ihn sofort wieder, da Fremde in dem verschlafenen Ort eine seltene Attraktion waren.
Was jedoch seinen Blick derart gebannt an dem Pärchen haften ließ, war der Umstand, dass es sich bei der jungen Frau – gleichwohl er sie nur von hinten sah- um seine Tochter handelte! Das haselnussbraune Haar, lang und fließend über die Schultern fallend, und die beschwichtigende Art, wie sie ihre Arme im Gespräch ihrem Gegenüber entgegenhielt, verrieten sie.
Aldrĭn wusste nicht, ob er sich freuen oder grämen sollte. Einerseits war er froh, sie augenscheinlich wohlbehalten vorzufinden, nachdem sein Traum ihn Schlimmes hatte ahnen lassen. Doch andererseits stand sie dort in der Seitengasse mit diesem Fremden. Es wunderte ihn nicht, dass sobald ein Unbekannter den Ort betrat, Rovinja sich in seiner Nähe aufhielt. Doch es beunruhigte ihn umso mehr, dass sie das Treffen vor ihm und Juliana geheim gehalten hatte.
Angestrengt versuchte er, etwas von ihrem Gespräch zu verstehen. Dabei musterte er den Jüngling von Kopf bis Fuß. Er hatte schwarzes, krauses Haar, das ihm über die Stirn fiel und seine Augenbraunen ganz bedeckte. In einem schmalen Gesicht mit ebenso schmalen Lippen saßen zwei wache Augen, aus denen mehr Erfahrung sprach, als man dem Jungen anhand seines Alters zugesprochen hätte. Immer wieder wanderte sein Blick umher, gerade so, als würde er sich beobachtet fühlen und Aldrĭn schaute rasch weg, als sich das Gesicht des jungen Mannes zu ihm wandte.
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