1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Während er den Brief entfaltete, erschienen Juliana und Galeon zwischen den Bäumen des Geltholzes. Sie trug ein weißes Mieder, ähnlich dem von Rovinja und einen erdfarbenen Rock, welcher allerdings an den Seiten schmale Aussparungen hatte, sodass sie sich ungehindert in dem Kleid bewegen konnte. Ihre dunklen Haare hielt sie mit einer Spange zusammen, wie sie es meist während der Arbeit tat. Dies und der Schmutz an ihren Händen wie auch die feinen Schweißperlen auf ihrer Stirn verrieten, dass sie gearbeitet hatte. Über die Schulter geschlagen trug sie eine lederne Tasche mit Werkzeugen.
Der kleine Galeon spielte mit einem Stock herum, welchen er als Schwert zu benutzen schien, um die Brennnesseln und Disteln am Wegesrand zu bekämpfen. Als der Junge, noch vertieft in sein Spiel, den Rest seiner Familie im Garten stehen sah, rannte er freudestrahlend los. Während Galeon und Ekiredis sich mindestens ebenso stürmisch begrüßten, wie Rovinja und er es getan hatten, las Aldrĭn konzentriert die Zeilen von Jalúa:
Werter Freund, es bekümmert mich zutiefst, dass ich nicht eher ein Wort des Grußes an Euch gerichtet habe, sondern damit bis zur Stunde der größten Not wartete. Nun vergebt mir meine Unfreundlichkeit, mit der ich mich jetzo an Euch wende, gefolgt von der untertänigen Bitte um Unterstützung in einer Sache größter Dringlichkeit.
Wie Euch der Erbe des großen Baldur von Klyenna wohl beigebracht hat, steht alles, wofür wir dereinst kämpften, vor einer Bedrohung, wie sie in all den Jahren nicht da gewesen ist. Der Ritter von Asmond, welcher ein Sohn eines großen Helden ist, der einst unter dem Banner der Familie von Klyenna ritt, hat eine Meute von Ehrlosen um sich vereint, die das Ende unseres herrlichen Reiches fordern. Sie werden vor keinem Mittel zurückschrecken, um ihr sinnloses wie frevlerisches Unterfangen zu vollenden. Ein erstes großes Opfer hat diese Bestie gerissen; es ist meine geliebte Heimat Tir’dahall selbst.
Mich erreichte die Botschaft, dass vor einer Woche Berittene in die Feste eingefallen sind, um alle unsere dortigen Elbenfreunde, aber auch jeden meiner kühnen Recken, die sich ihnen entgegenstellten, nieder zu machen und erbarmungslos zu morden. Tir’dahall ist nun unter Kontrolle der Abtrünnigen und es besteht kein Zweifel, dass es sich um das Werk des von Asmond handelt. Indes hat dieser Übeltäter die Saat des Bösen in das Herz unseres Reiches getragen und in Albenbrück große Zweitracht aufkeimen lassen.
Die Ratsherren der Elben und jene der Menschen begegnen sich in großem Argwohn seit jenen Vorkommnissen. Bevor dieser üble Zwist sich aber in der ganzen Stadt und womöglich im ganzen Reich ausbreitet, muss eine starke Hand sie zur Vernunft rufen. Noch achten sie mich, doch wird meine Stimme in den Hallen des Rates bald untergehen, wenn das Schwert gezogen und Blut vergossen wird.
Mit allem gebührenden Respekt erbitte ich daher Eure rasche Hilfe, um den Konflikt beizulegen, welcher vernichten könnte, wofür wir dereinst gekämpft und gelitten haben, nichts anderes nämlich als das freie Land Albenbrück, von Menschen und Elben geteilt. Wenn es eine Hoffnung gibt, die jenseits von Tod und Verderben liegt, so dann in Euren Händen, mein Prinz. In Hochachtung, Marius Anyjon von Jalúa, Zepterträger von Redencia & IV. Konsul des Hohen Rates von Albenbrück.
Während sich die anderen freudig begrüßten und Neuigkeiten austauschten, war Aldrĭn ganz und gar von den Worten seines alten Weggefährten eingenommen. Geistesabwesend ließ er seinen Blick über die Kate und den sonnenbeschienenen Garten wandern. Dann sah er hinauf zu den dicht belaubten Baumkronen, in denen noch die letzten Blüten des Frühlings saßen.
Die Äste bewegten sich im seichten Wind, der vom See herüberwehte. Alles, wofür wir gekämpft und gelitten haben. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Menschen vor ihm, aus deren Gesichtern eine tiefe Zufriedenheit sprach, während sie miteinander redeten.
So lange hatte er keinen Gedanken mehr an die ferne Stadt vergeudet und all das Verderben, das einst von dort aus seinen Lauf genommen hatte. Und nun kehrte dies alles an nur einem Tag wieder zu ihm zurück und stürzte sich auf sein Leben wie ein Raubtier auf die ahnungslose Beute.
Mein Prinz. Jalúa wusste, dass Aldrĭn diesen Titel abgelegt hatte, doch offenbar schien er in seinen Augen noch immer der rechtmäßige Thronerbe zu sein. Obwohl es doch Jalúa selbst war, der als Konsul das höchste Amt im Reich bekleidete!
Was könnte der Konsul von einem abgedankten Prinzen wollen? Aldrĭn konnte Jalúa in dieser Sache nicht helfen. Und es gab nichts, weswegen er in seiner Schuld stand. Er würde einen Brief aufsetzen, in dem er Jalúa um Verzeihung bat, doch welcher ihm unmissverständlich klar machte, dass er nicht mit Aldrĭns Rückkehr rechnen konnte.
„Das Gatter ist wieder in Ordnung“, sagte Juliana und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. „Danke“, war das Einzige, was er von sich geben konnte, so sehr war er innerlich aufgewühlt.
„Lasst uns etwas auf den Tisch bringen“, schlug Ekiredis vor, „ich habe seit Stunden nichts zwischen die Zähne bekommen!“
Zusammen gingen sie in die Kate, um ein Mittagsmahl zu bereiten.
***
Es war kurz nach Einbruch der Dämmerung und der volle, milchfarbene Mond läutete die Nacht ein. In der Kate wurden die Lichter gelöscht und nachdem sich alle eine gute Nacht gewünscht hatten, blieb Aldrĭn als Letzter und allein in der Küche beim Schein der Kerze sitzen, welche wie ein Irrlicht in der Dunkelheit auf dem großen Eichentisch niederbrannte.
In dicken Tropfen lief das weiße Wachs über den eisernen Kerzenständer. Gedankenverloren schaute Aldrĭn in die Flamme, die in warmen Farben leuchtete, und dachte über die Ereignisse des Tages nach.
Er schreckte hoch, als das Feuer wild flackerte, weil jemand den Raum betreten hatte. Es war Rovinja, die in ein weißes Nachtgewand gekleidet war und sich ihrem Vater gegenübersetzte.
„Hat dich der Tag nicht müde gemacht?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, schwieg allerdings und blickte ebenfalls in das kleine Licht zwischen ihnen.
Schließlich fragte sie: „Stimmt es, was Halldor gesagt hat?“
„Was meinst du?“, fragte Aldrĭn, obwohl er ahnte, worauf sie hinaus wollte.
„Dass du in Großvaters Gunst standst, Dirion aber nicht.“
Aldrĭn atmete tief ein, bevor er antwortete. Der Ritter hatte in ihm schmerzliche Erinnerungen wachgerufen, die er lange im Verborgenen gehalten hatte. Zumindest hatte er das bis zu diesem Morgen geglaubt.
„Nein, das hat er nicht. Er hat uns beide gleichermaßen geliebt, so wie ich euch“, versicherte er schließlich.
„Dann ist es gut“, schloss sie. Als er aufsah, blickte sie ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Es lag kein Vorwurf in ihren Augen, doch spürte Aldrĭn, dass sie ihn aufforderten, sich zu erklären. Wie erwachsen dieses Gesicht ihm auf einmal erschien, wie erfahren und klug. Ihm war wiederum zu Mute, wie in jenem Augenblick, als Ekiredis ihm von dem kleinen Jungen Brenon berichtet hatte, der nun den Hohen Rat stürzen wollte. Wie hatte er die letzten Jahre so achtlos an sich vorbeiziehen lassen können? Hatte er sich denn vor der ganzen Welt zurückgezogen und seine Augen verschlossen gehalten? Nur um sie jetzt zu öffnen und festzustellen, dass er zu einer anderen Zeit erwachte, in der die Kinder von damals Erwachsene geworden waren und viele der alten Helden wie spurlos verschwunden.
Noch immer blickten ihn die durchdringenden braunen Augen an. „Verzeih mir, dass ich nach dir geschaut habe“, begann er schließlich. Ihre Mimik zeigte keine Regung und er spürte, dass ihr die Entschuldigung nicht zu genügen schien.
„Verzeih mir, dass ich dir gefolgt bin. Ich hatte ein ungutes Gefühl, so als wärest du in Gefahr. Ich habe mich so sehr gesorgt, dass ich dir gefolgt bin. Ich weiß, dass du alt genug bist, um auf dich selbst aufzupassen. Und du wirst deine eigenen Entscheidungen treffen, unabhängig davon, ob sie mir gefallen oder nicht.“
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