„ Das solltest du auch nicht. Es ist dein Preis.“
Mels Mantel hebt sich leicht und senkt sich wieder, wahrscheinlich zuckt sie mit den Schultern. Ich weiß, dass sie keine Lust hat. Aber sie kann ihm nicht ausweichen. ER will, dass sie kommt, also wird sie gehen. So ist es immer.
„ Wir sehen uns übermorgen.“ Seine Worte klingen bestimmt, aber leiser, wie von weiter weg.
Vorsichtig blinzle ich um den Mantel herum, bis ich ihn sehe. ER steht ein Stück von uns entfernt, eine aufrechte, bedrohliche Gestalt. Als ER seine rechte Hand hebt, zucke ich zusammen. Aber ER winkt nur.
Der Empfang im Veranstaltungszentrum unter der Mensa ist schrecklich überlaufen. Wie ich erwartet habe, wollen alle dabei sein, wenn die Universität ihren frisch dekorierten Nobelpreisträger willkommen heißt. Ich erkenne mehrere Lokalpolitiker, zwei emeritierte Professoren, die sonst nur noch selten in ihren Büros auftauchen, und sogar eine Darstellerin vom Bochumer Schauspielhaus. Jeder, der auch nur entfernt mit der Hochschule zu tun hat, ist gekommen. Nur Rüdiger sehe ich nicht.
Unter den schwatzenden, lachenden und erregt diskutierenden Menschen fühle ich mich verloren und fehl am Platz. Ich zwänge mich an einem smarten Herrn in schwarzem Kaschmirpullover und einer stark geschminkten Dame in Kostüm und hohen Pumps vorbei, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Wahrscheinlich Geisteswissenschaftler. Es ist eng und fürchterlich heiß. Ich bin froh, eine einfache Hemdbluse zu tragen, die ich heute Morgen in aller Eile aus dem Schrank gefischt habe. In meinen üblichen Sweatshirts wäre ich völlig underdressed. Meine quietschgrünen Sneaker passen allerdings nicht zum restlichen Outfit. Aber sie sind bequem, und in dem Gedränge achtet hoffentlich niemand auf meine Füße.
Endlich entdecke ich zwei bekannte Gesichter. Olli und Tim haben auf der anderen Seite des Saals, direkt neben dem kalten Buffet, Stellung bezogen. Als er mich sieht, hebt Olli sein Bierglas zum Gruß und schiebt sich mit der anderen Hand ein Kanapee in den Mund. Tims blonde Haare sind wie immer etwas zerzaust. Ich frage mich, ob er sich morgens nicht bürstet oder seine Haare bewusst strubbelig föhnt. Ich vermute Letzteres. Jetzt winkt er mir begeistert zu und formt mit den Lippen das Wort Freibier. Ich muss unwillkürlich grinsen und will mich gerade zu den beiden durchkämpfen, als mich etwas Hartes in den Rücken trifft.
„Au!“, rufe ich, drehe mich um und stehe einem Mann mit strähnigen, halblangen Haaren und Lederjacke gegenüber.
„Ich darf mal“, schnarrt er und will sich und seine klobige Spiegelreflexkamera ohne irgendein Wort der Entschuldigung an mir vorbeischieben. Doch in diesem Moment landet eine Hand auf seiner Schulter.
„Ich muss doch bitten“, sagt eine Stimme mit so viel Autorität, dass der Reporter irritiert aufschaut.
„Und Sie sind …?“, fragt er.
„Jochen Glanz. Professor für Theoretische Astrophysik.“
Offenbar wittert der Mann eine Chance, denn er atmet anerkennend aus und zückt seinen Block. „Dann kennen Sie bestimmt diesen Neuhorst. Erzählen Sie mal. Wie ist der denn so unter Kollegen?“
„Neuhaus! Professor Rüdiger Neuhaus. N, E, U, H, A, U, S.“ Die Härte im Tonfall ist nicht zu überhören und erzielt sofort den gewünschten Effekt.
Der Pressemann räuspert sich verlegen. „Meine ich ja“, nuschelt er.
„Sie sollten diese Frage nicht mir, sondern der Dame stellen, die Sie gerade angerempelt haben.“
Meine anfängliche Erleichterung weicht einem spontanen Fluchtreflex. Aber bevor ich mich verdrücken kann, hat sich die Hand nun auf meine Schultern gelegt. „Darf ich vorstellen: Dr. Melanie Glanz.“
Der Reporter beäugt mich, als wäre ich eine überteuerte Ware, und ich spüre, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten.
„Sie sollten wissen, dass Frau Dr. Glanz diejenige ist, die den Nobelpreis eigentlich verdient hat.“
„Bitte nicht“, flüstere ich und spüre, wie meine Wangen aufglühen.
„Immerhin ist es ihre Doktorarbeit, um die sich heute alles dreht.“
Ich würde am liebsten im Erdboden versinken.
„So, dann erzählen Sie mal“, drängt der schmierige Typ und kritzelt bereits etwas auf seinen Block, bevor ich überhaupt den ersten Ton gesagt habe.
„Nun, ich … also … in den Naturwissenschaften arbeitet man natürlich zusammen … im Team“, stottere ich.
„Das heißt, die Studenten machen die Arbeit und die Professoren heimsen die Preise ein?“, hakt er deutlich desinteressierter nach. Seine Miene kann alles heißen. Vermutlich hält er mich für eine gewöhnliche Hochstaplerin.
Auch ich komme mir vor, als würde ich meinem eigenen Chef ein Messer in den Rücken rammen. Am liebsten würde ich unter einem Vorwand verschwinden. Mir fällt jedoch keine Ausrede ein, um mich der Hand, die meine Schultern umfasst, zu entwinden.
Zum Glück bittet die Assistentin des Uni-Rektors jetzt alle Vertreter der Presse in den Nachbarraum zum Fotoshooting mit dem Preisträger. Kaum ist der Reporter in der Masse verschwunden, sind auch meine Schultern wieder frei.
„Was soll das, Mel?“, fragt er.
„Was soll das, Papa?“, gebe ich trotzig zurück.
„Mein Gott! Darf wenigstens ich stolz auf dich sein? Es war dein Experiment. Du hattest den Riecher, du hast am Ende die Daten ausgewertet und richtig interpretiert. Es ist dein Preis.“
„Und du hast die theoretische Formel geliefert“, erwidere ich müde.
Mittlerweile hasse ich dieses Thema. Seit zwei Monaten, genau seit dem Tag, an dem die Preisträger offiziell bekannt gegeben wurden, vergeht kaum ein Gespräch, in dem wir nicht darüber streiten. Nobelpreise werden immer an die Professoren verliehen und das zu Recht. Rüdiger, John und George hatten lange vor mir die Idee für das Experiment. Sie haben es konstruiert und aufgebaut. Und später hat vor allem John mir bei der Auswertung der Daten sehr viele gute Tipps gegeben, ganz abgesehen von ihrer Interpretation.
„Ich verstehe dich nicht, Mel. Das ist deine Chance. Die Herren Professoren haben ihre Pferdchen längst ins Trockene gebracht. Sie haben ihre Stellen auf Lebenszeit. Du nicht. Du sitzt immer noch auf dieser zeitlich befristeten Sklavenposition, wo dein Talent skrupellos ausgebeutet wird. Wer kümmert sich um deine Zukunft? Rüdiger? Glaubst du das im Ernst?“
Ich betrachte einen Fleck auf meinem Turnschuh und hoffe, dass mein Vater das Thema fallen lässt, wenn ich nur lange genug nicht reagiere. Leider nützt es nicht. Er hat sich in Rage geredet.
„Du bist doch eine intelligente Frau. Im Labor lässt du dir nichts vormachen. Doch wenn es um deine Zukunft geht, verkriechst du dich hinter deiner Arbeit und hoffst auf ein Wunder. Wie oft wurde deine Stelle verlängert?“
„Dreimal“, flüstere ich.
Ich weiß, dass er recht hat. Wenn mein Vertrag das nächste Mal ausläuft, kann er nicht wieder verlängert werden.
„Dabei ist die Situation zu schön, um wahr zu sein“, zischt er. „Jetzt bist du am Zug. Streng dich ein bisschen an, spring endlich über deinen verdammten Schatten, solange der Preis frisch ist. Dann wirst du dich vor Stellenangeboten nicht mehr retten können.“
Verlegen spiele ich am Kragen meiner Bluse. Hoffentlich hört uns niemand. Zum Glück sind alle Umstehenden in ihre eigenen Gespräche verwickelt. Jedenfalls dreht sich niemand um.
„Mel, wenn du geschickt agierst, jetzt den richtigen Menschen dein Gesicht zeigst, wirst du garantiert auf die nächste freie Professur berufen“, fährt er sanfter fort. „Die Unis werden sich um dich reißen. Dann kannst du verhandeln, dir dein eigenes Labor aufbauen. Dafür würden andere morden.“
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