Als endlich alle eine Tasse oder ein Glas in der Hand halten, ist es plötzlich ganz leise.
„ Hoch soll er leben, unser Herr Nobelpreisträger“, ruft Alfred in die Stille und beginnt zu singen.
Dann wird es laut, denn natürlich stimmen alle ein. Sogar Mel singt. Ich kann sehen, dass Rüdiger ganz verlegen wird. Ich glaube, ihm schimmert sogar eine Träne im Augenwinkel, als er den Gruß erwidert.
„ Ihr seid ein großartiges Team“, ruft er und hebt sein Glas. Mels Beitrag erwähnt er nicht.
Mel prostet ihm zu, dreht sich um, um ihr Glas in die andere Richtung zu heben und zuckt erschrocken zusammen. Denn dort, unmittelbar vor ihr, steht ER.
„ Auf dich“, zischt ER und schaut sie bedeutungsvoll an. „Darauf, dass jeder bekommt, was er verdient hat.“
Ich weiß nicht, was ER damit meint. Zum Glück muss Mel auch nicht antworten. Denn in diesem Moment beginnen einige Leute, die neben Rüdiger stehen, laut zu lachen, und Phil ruft: „Moment! Hier fehlt noch jemand.“
Er deutet auf Rüdigers Glas. Es ist tatsächlich noch leer.
„ Ja, so was. Habe ich doch glatt vergessen, mich anzustellen“, sagt Rüdiger.
Auch Mel schmunzelt. Sie geht hinüber, nimmt Rüdiger das Sektglas ab und reicht es an ihren Vater weiter, der den Rest aus der Flasche eingießt.
„ Das reicht nicht mehr“, stellt ER sachlich fest.
„ Im Kühlschrank steht noch eine ganze Kiste“, ruft Tim und springt sofort auf.
Doch Mel winkt ab. „Lass nur, ich gehe“, sagt sie. Mit dem halbvollen Glas in der Hand verschwindet sie hinter der Tür.
Natürlich begleite ich sie. Deshalb sehe ich, wie Mel mitten im Gang vor der Küche stehen bleibt und mit einer Miene in das Sektglas schaut, als hätte sie darin etwas Ekeliges entdeckt. Sie schwenkt das Glas vorsichtig hin und her und kneift die Augen zusammen, sodass auf ihrer Stirn zwei dicke Falten entstehen. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um ebenfalls in das Glas zu spähen. Aber ich kann echt nichts erkennen. Manchmal ist Mel auch ein bisschen zimperlich. Dann sieht sie Sachen, die andere nie bemerkt hätten. So wie jetzt. Zum Glück zuckt sie schließlich mit den Schultern und geht weiter.
Drei Stunden später ist die Invasion der Heuschrecken überstanden. Auf den Platten, auf denen sich vorhin noch Berge von Frikadellen und Hähnchenspießen türmten, welken nur noch ein paar gelbe Salatblätter. Vom Kuchen zeugen die Krümel, und über den ganzen Kontrollraum verteilt stehen leere Tassen und Gläser. Niemand stört sich daran. Denn alle, die nicht unmittelbar zu unserem Team gehören, haben sich wieder in ihre Werkstätten und Büros zurückgezogen.
„So, jetzt aber ran an die Arbeit“, ruft Rüdiger und klatscht in die Hände.
Ich kann kaum glauben, dass wir tatsächlich alle Flaschen, selbst die aus dem Kühlschrank, geleert haben. Andererseits erklärt es, warum ich mich ziemlich schwummrig fühle, seltsam leicht und schwer zugleich. Wahrscheinlich war es eine dumme Idee, mich zu betrinken. Denn dass Rüdiger jetzt darauf brennt, endlich weiterzuarbeiten, hätte ich mir denken können. Eine ganze Woche in Schweden bedeutet für meinen Chef eine ganze Woche kalten Entzug. Über diesen Gedanken muss ich schmunzeln und hoffe, dass es nicht wie ein dämliches Grinsen aussieht.
„Unser neues Projekt wartet. Neues Spiel, neues Glück, neue Preise“, skandiert Rüdiger gut gelaunt. Wahrscheinlich hat auch er ein oder zwei Gläser zu viel getrunken. „Wie seid ihr in der Zwischenzeit vorangekommen?“
Ich atme tief durch und reiße mich zusammen. „Olli hat die drei neuen Germanium-Detektoren probehalber an das automatische Kühlsystem angeschlossen. Soweit scheint es wunderbar zu funktionieren. Wir haben es die letzten 48 Stunden getestet. Wenn es gut geht, wäre das eine echte Arbeitserleichterung, denn der flüssige Stickstoff im Behälter reicht für eine ganze Woche, ohne dass jemand ihn nachfüllen muss.“
„Wunderbar!“, ruft Rüdiger begeistert.
„Herr Marsen sagte mir gerade, dass auch die Kammer mit dem Arm für die radioaktive Quelle so gut wie fertig ist. Ich werde sie morgen abholen, sodass wir alles zusammensetzen und nächste Woche schon abpumpen können. Ich habe allerdings eine kleine Änderung bei den Detektoren vorgenommen. Wir hatten ja vorletzte Woche darüber gesprochen, dass wir die Hintergrundstrahlung reduzieren können, wenn wir die Reaktion zeitgleich in den Gammadetektoren und in den Teilchenzählern messen.“
„Hatten wir?“ Rüdiger zögert kurz. Doch als sein Blick auf Phil fällt, setzt er ein entschlossenes Gesicht auf. „Richtig, Mel, richtig.“
„Ich habe also drei Teilchendetektoren bestellt. Sie müssten in der nächsten Woche ankommen.“
„Ich werde sie dann sofort mit der neuen Quelle testen“, wirft Tim ein.
„In die Computersimulation habe ich sie schon einprogrammiert“, erklärt Olli stolz.
Rüdiger macht ein zufriedenes Gesicht. „Siehst du, Phil, das ist mein Team. Im Grunde brauchen sie mich gar nicht. Sie sind nur viel zu höflich, um das zuzugeben.“
Er lacht, und auch Phil grinst und zwinkert mir zu. Hoffentlich werde ich nicht wieder rot. Ich weiß gar nicht, was heute mit mir los ist.
„Wunderbar“, sagt Rüdiger. Er ist offensichtlich froh, wieder da zu sein.
Und auch ich bin glücklich darüber. Sein Elan und seine überschwängliche Laune haben mir gefehlt. Gut, dass der Preis endlich verliehen ist und die Feiern überstanden sind. Denn ich freue mich auf den Alltag.
Das neue Experiment geht voran. Jeden Tag treffen Mel und ich uns mit den anderen, um die Versuchsanordnung weiter aufzubauen und Abschnitte zu testen. Wenn ich neben Mel draußen durch den grauen Schneematsch laufe, der Winterwind uns eisig um die Nasen bläst und alles so trist und farblos aussieht, freue ich mich richtig darauf, wieder ins warme, helle Labor zu kommen.
Der neue Versuch wird in Raum 2 aufgebaut, von wo aus das Experiment durch ein schmales Loch in der dicken Betonwand direkt mit dem Teilchenbeschleuniger verbunden ist. Die Wand muss sein, denn der Beschleuniger erzeugt so viel radioaktive Strahlung, dass jeder stirbt, der ihm zu nahe kommt. Aber das macht natürlich keiner. Wenn der Beschleuniger läuft, sind die Tore fest verriegelt und mit einer elektronischen Sicherung blockiert. Selbst wenn er abgeschaltet ist, müssen Alois Schrödeler und seine Techniker ein paar Tage warten, bevor sie hineingehen und etwas reparieren können. So gefährlich ist er.
Wir bauen gerade die schweren Vakuumpumpen auf. Rüdiger steht am Rand. Mit einer Zigarette im Mundwinkel bedient er die klobige Fernbedienung und steuert den dunkelblauen Lastkran über die Schienen, die direkt unter der hohen Decke montiert sind. Im Neonlicht leuchtet sein Gesicht fast so gelb wie die Wand hinter ihm. Ich mag die bunten Farben im Labor. Am Kran baumelt die erste Pumpe. Sie ist flaschengrün und sieht aus wie ein vorsintflutliches Monster, eine gigantische Schildkröte aus lackiertem Eisen, von deren Panzer schon die Farbe blättert. Die langen Ketten, an denen sie hängt, rattern und ächzen unter ihrem Gewicht, während sich der Kran langsam über die Schienen schiebt.
Rüdiger ist in seinem Element. In seinen Augen leuchtet der Spaß, trotzdem sieht er irgendwie krank aus. Auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen, dabei ist es nicht wirklich heiß.
Ich folge dem Kran rückwärts durch den Raum. Mein Blick ist an die Decke geheftet, und ich versuche immer genau unter der Pumpe zu stehen. Olli und Tim laufen auch mit, um Rüdiger die Richtung anzugeben. Sie gehen natürlich seitlich neben der Pumpe, die jetzt sanft zwischen dem Verbindungsrohr zum Beschleuniger und einem hohen Schrank mit Messinstrumenten pendelt.
Читать дальше