1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Das Mädchen fällt auf die Knie. Es schluchzt leise. „Ich habe es nicht extra gemacht.“
Sie tut mir so leid. Sie kann nichts dafür. Es war ein Unfall. Ihr Vater wird es ihr später erklären. Unfälle geschehen. Niemand trägt daran die Schuld.
Die Kleine zittert. Ihr Körper bebt. Der Schmerz schnürt ihr die Kehle zu, sodass nicht einmal mehr ein Schluchzen zu hören ist. Ich versuche, zu ihr zu gehen. Ich möchte sie in den Arm nehmen. Ihr ein Lied ins Ohr singen, so wie ihre Mutter es früher getan hat. Ich muss ihr sagen, dass alles gut wird, dass das Leben weitergeht. Aber bevor ich sie erreichen kann, zieht jemand das Kind mit sich fort.
Ich bleibe allein zurück, während um mich herum wieder der Nebel aufzieht. Der weiße Kittel des Arztes vermischt sich mit den Schwaden, die bunten Pillen verblassen. Nur der tote Körper ist noch da. Dann löst auch er sich auf. Und das Bild meiner Mutter verschwindet im Strudel der Erinnerung.
„ Akutes Leberversagen“, vermutet der Notarzt, den Olli gerufen hat. „Sie müssen sich keinen Vorwurf machen. In so einem Fall kommt jede Hilfe zu spät.“ Er setzt sich zu Mel, die jetzt im Kontrollraum auf einem Stuhl hockt und einen Kaffee schlürft. „Wie geht es Ihnen?“ Er hat eine freundliche Stimme.
Zwei Männer, die ich nicht kenne, kommen aus dem Labor. Der eine hält ein Notizbuch unter dem Arm und trägt eine braune Cordhose. Er ist ziemlich groß und knickt die Knie beim Laufen komisch ein. Der andere trägt Jeans und ein gestreiftes Hemd.
Der Jeans-Mann dreht sich nach hinten und sagt zu irgendjemandem, den ich nicht sehen kann: „Wir sind fertig, Sie können die Leiche jetzt mitnehmen.“
Er zieht ein Handy aus der Tasche und tippt irgendetwas ein, während sein Cordhosen-Kollege vor Mel in die Knie geht, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihrem ist.
„ Vielen Dank für Ihre Geduld.“
Ich glaube, das Gerede kann er sich sparen. Mel starrt nur stumm in ihren Kaffee und bekommt gar nichts mit, und dem Notarzt ist es sowieso egal.
Trotzdem redet er weiter. „Leider muss bei jedem Todesfall der KDD gerufen werden. Die StPO verlangt eine ordnungsgemäße Leichenschau.“
Dass Mel ihn nicht beachtet, scheint ihn nicht zu stören. Er richtet sich wieder auf, nickt Olli und Tim zu und folgt zusammen mit seinem Kollegen den beiden Rettungssanitätern, die Rüdigers Körper auf einer Bahre zum Fahrstuhl schieben.
Der Notarzt wendet sich wieder an Mel. „Sie haben einen leichten Schock. Am besten gehen Sie nach Hause und schlafen sich richtig aus“, sagt er sanft.
Doch Mel schüttelt den Kopf. „Ich habe viel zu tun.“
Der Arzt lächelt. „Das sollten Sie auf morgen verschieben. Kann ich jemanden für Sie anrufen, damit Sie abgeholt werden? Sie sollten nicht allein fahren.“
Mich stört das besorgte Getue des Arztes ein bisschen. Ich mache ihm ja keinen Vorwurf. Er kann nicht wissen, dass ich da bin und auf Mel aufpasse. Genau genommen, weiß ja nicht einmal Mel das. Aber ich wünsche mir, dass er jetzt geht. Tim und Olli sollen auch verschwinden. Mel braucht Ruhe. Zumindest das ist doch offensichtlich.
„ Ich rufe ihren Vater an“, höre ich Tim hinter meinem Rücken sagen und fahre herum.
Nein, das will ich nicht. Alle, nur nicht ihn.
Die Ruhr-Universität liegt im Dunkeln. Undeutlich erheben sich die Konturen der hohen Gebäude vor dem sternenklaren Himmel. Um die Fassaden pfeift der Wind und fegt kalte Polarluft über die wenigen Autos, die zu dieser späten Stunde noch auf den Parkplätzen stehen.
Niemand sieht die einsame Gestalt, die das Physikgebäude verlässt, während die Tür hinter ihr mit einem dumpfen Laut ins Schloss fällt. Die Feuchtigkeit ihres Atems kondensiert in der eisigen Luft und hinterlässt mit jedem Stoß eine feine Wolke aus weißem Dampf. Zum Schutz gegen die Kälte senkt sie den Kopf und beschleunigt den Gang. An ihrer Hand baumelt eine Tüte, die weiß im Mondlicht leuchtet. Eine Windböe verfängt sich in ihr, zerrt an den Griffen und lässt sie flattern, bis die Papiergriffe der Kraft des Windes nicht mehr gewachsen sind. Sie reißen.
Mit einem leisen Klirren schlägt der Inhalt der Tüte auf dem kalten Asphalt auf. Die Tüte selbst verschwindet im Wind, doch die Gestalt schenkt ihr keine Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf den Gegenstand zu ihren Füßen. Eine Spritze. Eilig, beinahe hektisch, beugt sich die Gestalt hinab, greift nach der Spritze, wischt sie an ihrem Mantel ab und beäugt sie im fahlen Licht der Notbeleuchtung, wie um sicherzugehen, dass sie keinen Schaden genommen hat.
Offenbar ist alles in Ordnung. Die wasserklare Flüssigkeit im Hohlraum ist im diffusen Schein der orangefarbenen Laternen gerade noch zu erkennen. Schnell verstaut die Gestalt die Spritze in der Tasche ihres Wintermantels und blickt sich um. Die Straße ist menschenleer. Niemand hat den Vorfall bemerkt .
Rüdiger ist jetzt seit drei Wochen tot. Ich fühle mich leer und ausgelaugt, als wäre mit ihm ein Stück von mir selbst gegangen. Sein Elan und seine Euphorie, die bislang das Labor gefüllt und uns alle beflügelt haben, haben ein schreckliches Loch hinterlassen. Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, mache ich weiter wie bisher und vertrete meinen Chef, so gut ich kann. Aber es ist nicht einfach. Ich wusste gar nicht, wie viele Verpflichtungen eine Professur mit sich bringt. Dass Rüdiger noch die Zeit zum Forschen gefunden hat, erscheint mir langsam wie ein Wunder. Allein die Vorbereitung seiner Vorlesung braucht Stunden. Und im Anschluss haben die Studenten immer Fragen. Gestern wollte einer von ihnen wissen, ob er seine mündliche Prüfung jetzt bei mir ablegen könne. Ich habe keine Ahnung. Ich werde mich darum kümmern müssen. Irgendwann. Nur nicht jetzt.
Auch die Gremienarbeit und Hochschulpolitik schiebe ich vor mir her und hoffe, dass es niemandem auffällt, wenn ich die Termine schwänze. In meinen wenigen freien Minuten flüchte ich mich lieber hinab ins Labor und arbeite mit Olli und Tim an unserem neuen Experiment.
Nach den ersten Tagen, die wir in einer Art Schockzustand verbracht haben, haben wir die Arbeit wieder aufgenommen. Der Magnet hat zwar eine dicke Schramme, und es fehlt eine Ecke, dort wo er in den Boden geschlagen ist. Doch wahrscheinlich funktioniert er noch. Um sicherzugehen, werden wir ein paar Testmessungen durchführen. Um die Pumpe mache ich mir mehr Sorgen. Ich finde, sie surrt irgendwie komisch, wie ein heiseres Walross, um es mit Ollis Worten zu sagen. Aber Tim meint, dass sie vorher schon eigenartig geklungen hat. Also benutzen wir sie weiter, Ersatz haben wir ohnehin nicht.
So geht der Aufbau langsam voran. Die kleineren Pumpen sind bereits an ihrem Platz. Bald muss die automatische Kühleinheit angeschlossen und die neuen Teilchendetektoren können getestet werden. Leider kann Tim die starke Alphaquelle nicht finden, die ich extra für diesen Zweck bestellt habe. Vermutlich hat Rüdiger sie irgendwo abgelegt und vergessen. Irgendwann werden wir sie suchen müssen. Doch nicht heute. Nicht diese Woche. Denn Phil ist da.
Er ist tatsächlich persönlich gekommen, um das Equipment abzuholen, das Rüdiger ihm vor seinem Tod versprochen hat. Und allein die Tatsache, dass ich ihn gleich wieder sehe, lässt für einen kurzen Moment das winterliche Grau verblassen, als hätte sich irgendwo ein feiner Sonnenstrahl durch den Irrgarten der tristen Gebäude gebahnt. Dabei weiß ich gar nicht, ob wir die Detektoren und Spezialpumpen nach Kanada verleihen dürfen. Unser Labor und die gesamte Einrichtung sind streng genommen Eigentum der Universität. Rüdiger hat das nicht besonders ernst genommen. Doch jetzt muss ich die Ausfuhrpapiere unterschreiben, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das darf. Auf der anderen Seite habe ich im Moment keine Kraft, mich auch noch um bürokratische Schikanen zu kümmern.
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