1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 „ Gut, dann verschließe ich jetzt das Rohr und schreibe ein großes S darauf, damit du die Salami nicht mit den BGO-Zählern verwechselst“, entscheidet Mel.
„ Nö, die riechen anders.“
Die beiden kichern. Dabei ging es Mel gerade noch so schlecht, dass sie mir richtig leidtat.
Mit einem blöden Gefühl im Bauch hocke ich mich in die Ecke unter einen der Tische und warte. Komische Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Warum spricht Mel nicht mit mir so wie mit Phil? Warum lachen wir nicht zusammen? In meinem Magen zieht sich etwas zusammen und macht, dass ich mich ganz einsam fühle. Ich bin vielleicht unsichtbar. Aber ich bin doch kein Geist oder so. Ich bin ein Teil von ihr. Wenn die anderen mich nicht sehen, ist mir das egal. Eigentlich ist mir das sogar recht. Aber Mel soll mich endlich wahrnehmen. Sie soll wissen, dass ich da bin und mich um sie kümmere.
Zum Glück reist Phil heute ab. Und solange werde ich genau hier sitzen bleiben und darauf warten, dass dieser Kerl endlich wieder aus unserem Leben verschwindet.
Ich sitze in meinem Büro und starre auf den Bildschirm. Ich kann einfach nicht fassen, was ich dort lese. Wieder und wieder zwinge ich meine Augen dazu, den Buchstaben zu folgen. Aber sie streifen über die Zeichen, ohne ihre Bedeutung zu entziffern. Der Sinn ihrer Worte entgleitet mir, bevor ich ihn fassen kann. Es kann nicht sein. Es darf einfach nicht wahr sein, was dort steht.
George ist tot.
Phils E-Mail ist kurz und knapp, als hätte er sie in großer Eile getippt, Helvetica, Fontsize 12. Das erkenne ich sofort, als würde sich mein Verstand in den Details verhaken, um so dem schrecklichen Inhalt zu entfliehen.
Der Raum um mich herum dreht sich. Ich fühle mich wie damals vor 27 Jahren, gefangen in einem dichten Strudel aus Bildern, mein ganzes bisheriges Leben zeitgleich, im Zerrbild meiner Erinnerung. Ich sehe die unzähligen Stunden, Tage, Wochen und Jahre alle seltsam synchron, parallel zueinander. Ein schauriges Hologramm meines Lebens. Mein altes Kinderbett mit der bunten Bettwäsche. Der leblose Körper meiner Mutter. Meine Schwester und ich mit Schleifen im Haar. Mein Doktorhut. Rüdiger, tot. Der weiße Sarg meiner Mutter. Rosengestecke auf Eichenholz. Auf einmal wird mir klar, dass Zeit eine Illusion ist, zumindest die Zeit, an die ich bislang geglaubt habe, der einfache, geradlinige Verlauf der Dinge, wo ein Jahr dem anderen folgt, eine Erinnerung der nächsten. Wenn Zeit tatsächlich existiert, dann unabhängig von mir und dem Leben mit all seiner Vergänglichkeit. Was bedeutet schon vorher oder nachher, wenn es am Ende irgendwann sowieso passiert? In der Erinnerung verschwimmen die einzelnen Ereignisse zu einer grellbunten Collage. Ihre Chronologie wird unbedeutend.
Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Meteorit und wirft mich aus meiner Bahn. Marionettenhaft hänge ich im zeitlosen Raum, unfähig mich aus eigenem Antrieb zu bewegen. Nur die Details, die unbestreitbaren Kleinigkeiten sind es, die mir einen zerbrechlichen Halt geben.
So war es auch damals. 52. Das war die Zahl, das unbeirrbare Detail. 52, nicht 51 oder 53, genau 52 bunte Pillen waren es, die um meine Mutter verstreut lagen. 24 blaue, 13 gelbe und 15 rote auf schwarz-weiß gekacheltem Boden. Ich habe sie gezählt. Ich habe auf den toten Körper meiner Mutter gestarrt und konnte nicht fassen, was ich dort sah. Also habe ich mich auf die Tabletten konzentriert. Blaue, gelbe und rote. Nur grüne waren nicht dabei. Ich weiß noch, dass ich meinen Vater gefragt habe, wo die grünen Pillen seien. Aber er hat mich nicht verstanden. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass es wichtig war, dass es die grünen Tabletten waren, auf die es ankam. Vielleicht hat es etwas mit dem verworrenen Harmoniebedürfnis eines kleinen Mädchens zu tun. Blau, gelb, rot und grün. Es gibt immer alle vier Farben. Im Buntstiftset, die Spielfiguren bei ,Mensch Ärgere Dich Nicht‘ und sogar die Saftgläser in der Küche. Vielleicht hätte ich meine Schwester fragen sollen. Sie hätte mich verstanden. Aber Kati war aus irgendeinem Grund nicht da. Später habe ich die Frage vergessen. Eigenartig, dass sie mir jetzt wieder einfällt.
„Wieso gab es keine grünen Tabletten?“, murmle ich laut vor mich hin und versuche mich an meiner eigenen Stimme festzuhalten.
„Er hat sie vertauscht“, tönt die Antwort aus dem Nichts. Der Ton ist klar und überaus deutlich, eine helle, freundliche Stimme, deren Klang mich umgehend aus meiner Starre reißt.
Vor Schreck springe ich auf, sodass meine Knie gegen die Tischplatte stoßen und mein Schreibtischstuhl rückwärts gegen die Fensterwand schlägt. Adrenalin pulsiert in meinen Adern. Mein Herz hämmert so fest, dass ich glaube, es ebenfalls zu hören. Ich fahre herum, lasse den Blick durch mein Büro schweifen. Doch da ist niemand.
Was war das? Wer war das?
Ruhig! Ich muss mich zusammenreißen. Wieder klar denken. Ich bin in meinem Büro. Es ist noch früh, gerade 7 Uhr 30. Um diese Zeit bin ich normalerweise allein. Und trotzdem diese Stimme. Ich habe sie so deutlich gehört, wie das Ticken der alten Buffetuhr auf meinem Schrank. Ich habe mir das nicht eingebildet. Oder doch?
Einfach weiter atmen. Das hilft.
Nach dem dritten Luftzug schaue ich mich sorgfältig im Zimmer um. Gewissenhaft lasse ich meinen Blick über die Bücherregale gleiten, die sich unter der Last unzähliger Fachbücher über Astronomie, Kernphysik, Messtechnik und Chemie biegen. Ein Board nach dem anderen suche ich ab. Ich bücke mich und schaue unter meinen Schreibtisch, wo drei Paar Schuhe durcheinander liegen. Hinter dem Drucker finde ich die Verpackungsreste eines Schokoriegels und die Verschlussringe mehrerer Cola-Dosen. Aber sonst entdecke ich nichts. Nicht einmal auf dem Tisch mit dem Wasserkocher, an der Pinnwand mit den Fotos oder zwischen den Grünpflanzen auf der breiten Fensterbank kann ich etwas erkennen, kein versteckter MP3-Player, kein Handy, kein Lautsprecher. Nichts, mit dessen Hilfe sich vielleicht jemand einen Scherz erlaubt haben könnte. Selbst die Fenster sind geschlossen. Vorsichtshalber öffne ich die Tür und werfe einen Blick hinaus in den Flur. Aber ich bin allein. Außer mir ist niemand hier.
Gerade hat Mel vor mir gestanden, die Augen aufgerissen wie ein verschrecktes Tier. Nun rast sie wie eine Irre durch ihr Büro vom Schreibtisch zu den Bücherregalen und zurück. Sie beugt sich vor, schaut unter den Tisch, wühlt in einem Berg verschiedener Schuhe, zieht Bücher, Fotos und Reiseandenken von den Regalbrettern. Sie tastet die Fensterbank zwischen unserem Blumendschungel ab und prüft die Bürotür. Das kann nur eines bedeuten: Sie hat mich gehört. Mich! Meine Stimme! Kann das tatsächlich sein?
Ich bin so glücklich. Am liebsten würde ich Luftsprünge machen, Räder schlagen, meine Arme um sie werfen und Mel ganz fest drücken. Mein allerallergrößter Wunsch ist endlich wahr geworden. Zumindest fast. Denn sehen kann sie mich nicht, sonst könnte sie sich diese Suche sparen. Ich stehe ja direkt neben ihr. Aber das ist nicht so schlimm. Wichtig ist, dass sie mich überhaupt bemerkt hat. Endlich!
Jetzt wird alles anders. Wenn sie mich hört, kann ich ihr alles erzählen. Wir können miteinander reden, zusammen plaudern wie echte Freundinnen. Nur sie und ich. Dann wird es wieder schön werden, so wie früher. Denn ich kenne Mel besser als jeder andere. Ich weiß fast alles über sie, was sie fühlt, was sie denkt. Und jetzt kann ich ihr erzählen, was ich fühle und denke und alles, was ich weiß. Wir können zusammen Bücher lesen, Filme anschauen, Witze machen, die nur wir verstehen. Wir kochen, was wir mögen, kuscheln uns zusammen in unseren Lieblingssessel unten im Labor, planen unser nächstes Experiment und kümmern uns nicht um den Rest der Welt. Denn wir haben uns. Mel wird sich nie wieder einsam fühlen – und ich auch nicht. Von jetzt an sind wir wieder zu zweit.
Читать дальше