Allein schon daran, wie ihn das Autofahren anstrengte, spürte er, wie angegriffen seine Gesundheit war. Früher genoss er das, fast war es eine Zeit der Meditation, wenn er so durch die Landschaft dahin gondelte. Jetzt nahm er sich vor, alle hundert Kilometer eine Rast einzulegen. Garmisch lag hinter ihm. Ehrwald, Biberwier hatte er gerade passiert. Vor dem Fernpass noch einen Kaffee, einen Doppelten, wie man hier zu sagen beliebte. Und schon hatte ihn wieder der Dienst eingeholt: War hier in dieser Gegend nicht der ehemalige Kollege Paul Krüner verschwunden, entführt worden, lag er schon tot irgendwo in einer Felsspalte? Der Tote im Schilf, der die vierhunderttausend Euro im Schlauchboot über den Starnberger See gerudert hatte und dann erschlagen wurde? Und Krüner zur falschen Zeit am falschen Ort? Schnell schüttete Velmond seinen Doppelten in sich hinein, als müsse er fliehen - fliehen vor all diesen Fällen. Bestand sein ganzes Leben nicht nur aus Fällen? Aus Toten, Ermordeten? Was für ein Scheißleben hatte er sich da eingebrockt? Und jetzt - Urlaub? Kur? Gibt es überhaupt Urlaub im Kopf? Kann man abschalten? Und wenn wie? Die sollen ihm bloß nicht mit Yoga und Pilates kommen! Mentaltraining, ach du liebes Bisschen! Lieber wollte er seine Fälle in fruchtig-trockenem Terlaner ertränken!
Landeck! Landeck? Von hier hatte der Krüner eine Karte geschickt, wollte es zumindest. Sie lag im Dreck, an einer Tankstelle. Jemand hatte sie frankiert und in den Briefkasten geworfen. Solche lieben Leute gab es also hier! Aber der Verkehr war brutal! Brutal insbesondere für die Einwohner. Gefühlte zehntausend Autos pro Stunde, die sich durch die engen Gassen quälen! Wenigstens lenkte das von Krüner ab. Mein Gott, da geht einer in Pension, glaubt, sich endlich fallen lassen zu können, verliebt sich vielleicht in die lesbische Gisela, fährt an den See, will die Abenddämmerung genießen, kriegt eins auf die Rübe und jetzt? Ist man als Kriminaler auch nach seiner lang ersehnten Pensionierung nie außer Dienst? Stets gefährdet? Jetzt im Alter kämen ja auch die frei, die er in seinen besten Mannesjahren hinter Gitter gebracht hatte. Würden sie Rache üben? Ist Krüner einem solchen Rächer in die Hände gefallen?
Pause in Nauders, ja, so könnte Urlaub beginnen: draußen in der Sonne hocken, Cappuccino, nette Bedienung. Lauter Pärchen oder Jungeltern mit Kinderchen. Und er - allein! Keine Uta! Sollte er sich einen Kurschatten zulegen? Nur so? Würde sich denn irgendein resches Weibchen noch nach ihm umschauen? Gedanken kurz vor dem Reschenpass! Ist der Krüner auch hier entlang verschleppt worden? Liegt der unten im See? Neben dem immer noch aus dem grauen Wasser herausragenden Kirchturm des versunkenen Dorfes? Die Passhöhe - ein einziger Rummelplatz! Und so viele Radfahrer! Passstraßen raufradeln scheint ein Volkssport zu werden. Und dann wieder hinunter rasen! Virtuos zwischen den Autos hindurch, die sich hinter Wohnwagen und Autobussen stauen.
Die Parkplatzsuche irgendwo an einem ruhigen Plätzchen gestaltet sich schwierig. Velmond fühlt sich unendlich müde. Ist das die Urlaubskrise schon vor dem Urlaub? Er erspäht eine Burgruine und ein kleines Dorf. Ja, mal weg von der anstrengenden Straße. Ruhe suchen auf einer Bank unter einem schattenspendenden Baum. Irgendwie fühlt man sich plötzlich wie in einem großen Freilicht-Museum. Drüben das Rauschen der nie endenden Fahrzeugkolonnen, hier scheint das Leben still zu stehen. Wäre da nicht der überquellende Papierkorb mit Zivilisationsmüll, Bier- und Red-Bull-Dosen, Marsriegel-Hüllen und Landjäger-Verpackungen.
„ Nun vergiss heißes Flehn, süßes Kosen ...“ - sein Handy meldet sich. Auch das noch. Er hatte vergessen, es abzuschalten. Ein äußerst erregter Elsterhorst ist dran:
„ Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihrem Paradies aufschrecke, aber das muss ich Ihnen schon noch brühwarm mitteilen: Der Hanselmann hat höchstwahrscheinlich diese attraktive Türkin ermordet. Die Zeit zwischen der Landung des Flugzeugs aus Dubai und dem Eintreffen in der Firma hat locker gereicht, erst nach Gern zu fahren, der Frau Dr. Yülmaz zur Wahl in den Vorstand mit einem Glas Prosecco zu gratulieren und dort E-605 hineinzumischen, was wir im Geräteschuppen bei den Hanselmanns sichergestellt haben. Das Zeug ist seit langem verboten. Frau Hanselmann glaubt, man habe es angeschafft, um die Fichtenlaus zu bekämpfen. Aber ihr Mann habe sich nie um den Garten gekümmert und mutmaßlich gar nicht gewusst, was im Schuppen so alles ist. Wird gegenwärtig geprüft. Einen sauberen Herrn Hanselmann haben Sie da an der Backe! Sich an so einer schönen Frau zu rächen. Pure Eifersucht! Nun kuren Sie mal schön, während wir hier rotieren! Aber einer muss es ja gut haben. Auf möglichst baldiges Wiedersehen, Herr Kollege!“
Ärgerlich, ärgerlich! In irgendeinem Magazin war er mal auf eine ganzseitige Reklameseite gestoßen: ein motziges Auto am Straßenrand, vor einer strahlenden schweizer Alpenkulisse, blauer Himmel, ein eleganter Herr, der sich lässig an seine Luxuskarosse lehnt und mit seinem Handy telefoniert, darunter die Botschaft „Das wunderbare Gefühl, überall erreichbar zu sein!“ Der Wahnsinn! Spontan hatte er damals beschlossen, nie ein Mobiltelefon haben zu wollen, und schon gar nicht von dieser Firma. Und jetzt hier, beim Blick auf die verschneite Ortler-Gruppe, war er erreichbar – noch dazu von Elsterhorst! Nein, Schluss damit! Ausschalten! Fliehen!
Im Hotel hatte er sein Kommen auf 17 Uhr angekündigt, Zeit genug, noch in Schluderns, das jetzt Sluderno heißt, einen Espresso zu trinken. Ob das nun gut für sein Herz wäre? Ach, bald müsse er sich dem Terror der Kurärzte fügen und sich unter der Knute unbarmherziger Schwestern gesundes Leben aufzwingen lassen. Ach ja - noch einen Espresso bitte!
Dann war es soweit. Er kam sich vor wie beim Einrücken in die Kaserne. Allerdings - dieses Kurhotel hatte einen gewissen alten Charme, und die Leute am Empfang waren richtig nett. Nur zum Empfang? Velmond traute dem Frieden nicht. Er solle sich erst einmal einrichten. Das Zimmer hatte gar nichts, was an ein Sanatorium erinnert. Es war gemütlich. Der Balkon ging zu irgendeinem Tal hinaus, war es das Passeier Tal oder glänzte da silbrig die Etsch? Ach ja, irgendwann hatte man doch gesungen „von der Etsch bis an die Memel“ irgendwas mit dem heiligen Vaterland. Velmond, denke doch mal positiv, sagte er zu sich selbst: Du hast es gut, supergut, supersupergut hier. Meran! Mit Beihilfe vom Staat, und nicht mehr von der Etsch bis an die Memel, sondern ganz Europa ohne Schlagbäume, keinen Krieg mehr, alles so friedlich, die Apfelplantagen, die Weinberge, das Rauschen der Bäche. Morgen früh erst Sprechstunde beim Kurarzt. Also heute noch frei! frei! frei! Ab in die Altstadt. Unter die Lauben. Er kannte sie von vielen kurzen Besuchen und Besichtigungen. Früher. Als er noch Tarifurlaub nahm. Im vergangenen Jahr, oder war es schon zwei Jahre her, ermittelte er in Kastlruth und Bozen: die tote Frau an der sogenannten Rosenbank! In den Dolomiten, am Schlern. Könnte man den von hier aus sehen? Scheußlich - schon wieder an einen Fall erinnert zu werden. Bald wäre die Landkarte nur noch eine Fällekarte! Damals von Bozen aus hatte die Zeit nicht gereicht, auch noch Meran eine Stippvisite abzustatten.
Ob der Arzt noch Restalkohol feststellen könnte? Der Wein war gut, die Abendleute nett. Er teilte die Passanten immer ein: Tagesleute, das waren die lauten Touristen, peinlicherweise meist Deutsche, obwohl schon wenige Italiener sie leicht in ihrer Lautstärke zu übertreffen vermochten. Die Tagesleute bewegten sich hektisch, hastig, Einkäufe in Plastiktüten schwenkend, ein Eis auf der Hand oder Coffee-to-go, natürlich auch Wasserflaschen, Fotoapparate und Smartphones. Als Tourist müsste man mindestens sechs Hände haben oder eine geduldige Frau mit Umhängetasche. Velmond fühlte sich über die Touristen erhaben; denn er gehörte ja zu den Abendleuten, die langsam und genussvoll die Ruhe nach dem Sturm genießen können. Abends an der Passer entlang schlendern, den ersten Blütenduft einatmen, die Pracht der gepflegten, hell leuchtenden Jugendstil-Paläste bewundernd.
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