Antonia war verblüfft. Mehr noch über die Redensart als über sein Ansinnen. Sie konnte noch verstehen, dass er sich ausgedacht hatte, wie es mit ihr gehen könnte, irgendwann, wenn sie genug miteinander geredet hätten, wenn sie gewusst hätten, welche Bücher sie lasen und welche Filme sie sahen. Aber Antonia konnte nicht verstehen, dass ihre Zustimmung die Bedingung sein sollte, damit er überhaupt mit ihr reden und sie kennen lernen wollte.
„Ich werde noch eine Couch für uns kaufen“, fuhr er fort, „werden Sie mir helfen, beim Aussuchen? Und Vorhänge, was denken Sie, welche Vorhänge hier passen könnten?“
Dieser Mann ist verrückt, dachte Antonia. Sie schaute auf seinen Mund, als er ihr die Anordnung der Küche erklärte. Sie überlegte, ob sie diesen Mund küssen wollte. Der Mund war für Antonia das Wichtigste im Gesicht eines Menschen. Obwohl die meisten Menschen glauben, die Augen wären das Wichtigste. Aber in den Augen zeigen sich nur Intelligenz oder Dummheit, in der Haltung des Mundes hingegen Sensibilität oder Primitivität.
Antonia wusste nicht, was dieser Mund war, mit einem leicht spöttischen Zug an den Rändern, aber einem unerwarteten Stülpen der Oberlippe, was ihn beim Reden weicher machte als man es erwartete, wenn er geschlossen war.
Während Antonia über diesen Mund nachdachte, stellte der Mann sich hinter sie, umfasste ihre Mitte und drehte sie herum.
„Kommen Sie, küssen Sie mich“, sagte er und legte seine Lippen auf ihre und tatsächlich fühlte es sich weicher und angenehmer an, als sie vermutet hatte. Sie wehrte sich dagegen, sie presste ihre Lippen aufeinander und spürte doch, dass er gut schmeckte, weich und warm, ohne Geruch nach Speichel oder Essensresten.
„Tun Sie doch nicht so“, sagte er und fasste nach ihren Brüsten. „Sind Sie mit mir gegangen, um mir die Moralische vorzuspielen?“
„Ich spiele gar nichts“, sagte Antonia. „Ich würde Ihnen und mir Gefühle vorspielen, wenn ich jetzt mit Ihnen ins Bett ginge. Oder auf den Boden“, sagte sie und deutete auf den Teppich.
„Spielen Sie“, sagte er.
Antonia verzog das Gesicht.
„Haben Sie einen Mann?“
Antonia ging einen Schritt zurück, sie brauchte Distanz, um mit ihm reden zu können.
„Ich bin geschieden!“
Er ging ebenfalls einen Schritt zurück und fragte: „Was mache ich falsch?“
„Alles“, sagte Antonia.
Er setzte sich auf die Stufe vor der Balkontür und schüttelte den Kopf.
„Was wäre richtig?“
„Es ist nicht meine Sache, das herauszufinden.“
„Werden Sie wiederkommen?“
„Wenn die Bedingung ist, dass ich mit Ihnen schlafen muss, nein!“
„Sie sollen nicht müssen!“
„Dann hören Sie auf, mich zu bedrängen!“
„Sie können jederzeit gehen!“
„Ciao!“
Antonia ging und drückte auf den Liftknopf. Kaum war sie aus der Wohnung, hatte sie keine Erinnerung mehr an sein Gesicht. Nur seine Hände fielen ihr ein, klobig, sehr klobig und mit viel zu kurzen Fingern für einen so großen Mann, noch dazu trug er am kleinen Finger einen Siegelring. Ihr fiel das Picasso-Foto ein, auf dem der Maler die Milchstollen auf dem Tisch gereiht hatte, als wären es seine Finger. Picasso, natürlich, dachte sie. Das Naheliegendste fällt mir ein. Er hat auch keine Chirurgenhände gehabt. Mein Gott, neige ich schon dazu, diesen Mann zu verteidigen, kaum dass ich sein Boudoir unverrichteter Dinge verlassen habe? Nur weil er derbe Hände hat, ist er noch lange kein Picasso. Ich weiß nicht einmal, ob er ein guter Arzt ist. Alle Ärzte behaupten, dass sie gut wären und die meisten anderen wären schlecht. Er hat nicht einmal von sich behauptet, ein guter Arzt zu sein.
Antonia ging stur auf den Ausgang zu. Sie sah nicht nach links oder nach rechts, sie wollte nichts mitnehmen von hier, nicht einmal eine Erinnerung an das Stiegenhaus, an die Straße oder an die Gegend. Sie sah zu Boden und strebte auf eine größere Straße zu, sie wollte rasch wieder an den öffentlichen Verkehr andocken.
„Darf ich Sie ein Stück mitnehmen?“ Er hatte neben ihr gehalten. „Ich bringe Sie, wohin Sie wollen.“
„Wo ist die nächste U-Bahn-Haltestelle?“, fragte sie.
„Die finden Sie nie. Das ist hier kompliziert, außerdem: eine gefährliche Gegend. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“
„Dass die Gegend hier gefährlich ist, habe ich schon bemerkt“, sagte sie und stieg ein.
„Nicht gefährlich genug“, brummte er. „Was haben Sie gegen diese Wohnung?“
„Nichts“, sagte sie, „ich habe nur nichts für sie.“
„Darf ich wieder anrufen?“
Antonia nickte beiläufig. Es war eine unkomplizierte Art des Verabschiedens, und sie konnte sich noch überlegen, ob sie ihn wiedersehen wollte.
Antonia schien es, als starrten sie die Leute in der U-Bahn an. Als hätte sie etwas Ungehöriges an sich. Sie sah an sich herab und entdeckte keinen Toilettefehler. Sie starrte zurück. Einer wagte es und ließ den Blick auf ihr, obwohl sie ihn abschätzig ansah, er war vom Typ besserer Angestellter und grinste sie an, als wäre sie für ihn zu haben, zumindest als eine Möglichkeit, von gleich zu gleich. Du überschätzt dich, dachte sie. Wie konnte er glauben, dass er sie so ansehen dürfe, sah er ihre Kultiviertheit nicht, ihren Stil nicht, sah er nicht, dass es unmöglich war, sie anzugrinsen, als wäre sie von der Straße, oder ein Gegenstand, der in der U-Bahn zurückgelassen worden war, den man nur aufheben musste und mitnehmen konnte, weil er niemandem gehörte und niemandem fehlte, weil er längst vergessen worden war, wie ein altes Paar Schuhe, das man sich zwar einpacken ließ, aber dann in der U-Bahn vergessen hatte. So eine war sie nicht. Und doch, was war so anders gewesen, als der Mann sie aufgelesen hatte, in dem protzigen Cabrio, in das einzusteigen ihr theoretisch peinlich gewesen wäre, und in das sie doch eingestiegen war wie in einem Film mit dem jungen Mickey Rourke. Aber nur das Auto war vom Typ Mickey Rourke, nicht der Fahrer, und das einzige, das dieses Aufreißerklischee durchbrochen hatte, war der Kindersitz. War es eine kalkulierte Methode, um Sympathie bei einer bestimmten Art von Frauen zu wecken? Bei kindchenschemaabhängigen, die von einem Mann lieber das Foto des Sprösslings sehen wollen als seine steile Bude?
Antonia glaubte nicht, dass er noch einmal anriefe nach diesem misslungenen Treffen. Sie wusste auch nicht, ob sie ihn noch einmal sehen wollte, aber sie gönnte es ihm nicht, dass er bestimmte, wann Schluss gemacht wurde. Sie wollte „nein“ sagen, falls er ein weiteres Treffen vereinbaren wollte. Aber damit sie nein sagen konnte, musste er anrufen.
Sie ging nicht mehr zurück in den Verlag, sie holte Friederike vom Kindergarten ab, etwas früher als sonst, sie wollte sich mit ihr einen schönen Nachmittag machen. Sie hatte mehr Zeit für ihr Treffen veranschlagt gehabt. Nun wollte sie die gewonnene Zeit ihrem Kind schenken. Aber Friederike wollte diese Zeit nicht haben.
„Was tust du schon hier“, fauchte die Kleine ihre Mutter an und stemmte ihre Hände in die Hüften.
„Dich abholen, was sonst. Ich dachte, du freust dich und wir machen uns einen schönen Nachmittag!“
„Es geht jetzt nicht“, sagte Friederike, „wir waschen gerade die Puppenkleider. Aber in einer Stunde. Vielleicht!“
Antonia ging in ein Kaffeehaus in der Nähe des Kindergartens. Sie packte ein Manuskript aus und las.
Er rief wieder an. Ohne Einleitung begann er: „Wir brauchen dringend Vorhänge. Würden Sie mir helfen, welche zu kaufen?“
„Warum ich? Sie haben doch eine Frau, die Ihnen helfen kann“, antwortete Antonia.
„Aber ich will, dass sie Ihnen gefallen und nicht ihr. Ich möchte mit Ihnen in dieser Wohnung sein!“
„Warum?“
„Weil Sie mir gefallen. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt, oder nicht? Außerdem brauche ich Ihren Rat.“
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