Während die beiden Frauen gemeinsam den Tisch deckten, ertönte, ausnahmsweise einmal laut und durchdringend, Schwesterchens Babygeschrei. Mama lief hinaus. Oma nutzte den Augenblick des Alleinseins, um sich Kaffee einzuschenken. Jürgens Mutter kam wieder herein, mit der jetzt zufrieden vor sich hinlächelnden Julia auf dem Arm, setzte sie auf Omas Schoß und machte das Fläschchen zurecht. Die beiden Frauen unterhielten sich. Ihre Münder öffneten sich, auf, zu, auf, zu, wie Fische im Aquarium sahen sie hinter der Fensterscheibe aus. Mama unterstrich jeden Satz mit einer lebhaften Gebärde. Ich muss mir einmal merken, welche Handbewegung sie zu welchen Worten macht, dann weiß ich, was sie sagt, auch ohne es zu hören, dachte Jürgen und überlegte, ob dies wirklich möglich sei. Wieder sang er sein Liedchen leise und klopfte den Takt mit den Füßen gegen den Holzstoß. Dieser geriet ins Wanken; erschreckt hielt der Junge still. Würde er umstürzen? Eine Weile war Jürgen damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Als er sich wieder einigermaßen sicher auf seinem Sitz fühlte, wanderte sein Blick erneut zum Haus hinüber. Irgend etwas stimmte nicht. Mama, regungslos gegen den Tisch gelehnt, die linke Hand auf eine Stuhllehne gestützt, sagte etwas und schaute dabei sehr betroffen drein.
„Oma – du alte Ziege“, schimpfte Jürgen laut vor sich hin. Sicherlich hatte sie abermals mit ihrem albernen Gerede über Julias verspätete Entwicklung angefangen und von irgendeinem Wunderkind aus ihrem Bekanntenkreis erzählt, das schon im zartesten Babyalter laufen, sprechen und wer weiß was sonst noch alles konnte.
Jürgen kletterte von seinem Sitz. Dabei geriet der Holzstoß erneut ins Schwanken und stürzte diesmal endgültig um. Macht nichts, nachher schichte ich ihn wieder auf, dachte der Junge, kroch zwischen den Scheiten hervor, klopfte das Sägemehl von Hose und Hemd und schlich hinaus. Ich muss mich unbedingt an Oma rächen. Aber wie? Käme sie mit dem Fahrrad, könnte man die Luft aus den Reifen lassen. Der Gedanke an eine radelnde Oma reizte Jürgen zum Lachen. Er stellte sich vor, wie der schwarze Rock vom Fahrtwind hochgeblasen wurde und darunter ein altmodischer Schlüpfer mit Beinansatz bis zu den Knien zum Vorschein kam. Seine gute Laune war wiederhergestellt; er vergaß seine Rachegelüste.
„Da bist du ja!“, rief es aus dem nun offenen Fenster. Oma hatte ihn entdeckt. Diesmal konnte Jürgen sich nicht drücken, er ging hinein. Das gewohnte Spiel begann: Händchen- und Küsschengeben. Besonders Letzteres verabscheute er, weil Omas Atem schlecht roch.
„Warum machst du keinen Diener? In meiner Jugend gehörte er einfach zu einem guterzogenen jungen Mann und die Mädchen vollführten einen Knicks.“ Es folgte der übliche Redeschwall, als hätten sie sich nicht erst gestern gesehen: „Blass schaust du aus, du wächst zu schnell. Früher bekamen die Kinder täglich einen Löffel Lebertran, der würde dir auch gut tun, besser als die ganze Babypampe, die gibt dir doch keine Kraft.“
Jürgen lächelte brav, Mama zuliebe. Innerlich kochte er vor Wut: Diener machen, Lebertran schlucken! Soll Oma doch selber Lebertran einnehmen, oder noch besser Rizinusöl. Wenn sie eine Woche auf der Toilette hockt, bleiben wir wenigstens von ihren Besuchen, mit denen sie nur Unheil anrichtet, verschont. Mama gab sich zwar heiter, doch Jürgen spürte genau, irgendetwas Unangenehmes war gesagt worden, das ihr jetzt noch durch den Kopf ging und sie bedrückte.
Am nächsten Tag besuchte seine Mutter mit Julia wieder mal den Kinderarzt, schon das dritte Mal in diesem Monat. Sie übertreibt, dachte Jürgen. Mit mir ist bestimmt nicht so ein Theater veranstaltet worden. Dabei wusste er genau, das war ungerecht, früher war sie um ihn genau so besorgt gewesen. Bei ihrem Nachhausekommen herrschte wieder mal Novemberlaune. Wegen des langen Wartens, trotz Termin, nahm Jürgen an. Mama beachtete ihn kaum, schaute hingegen Julia immer wieder aufmerksam, fast forschend, an. Ich mag mein Schwesterchen nicht, dachte Jürgen. Mama hat nur noch die Kleine lieb und übersieht mich einfach, besonders wenn sie, wie jetzt, schlecht gelaunt ist. Jürgen erschrak. Nein, solch ein hässliches Gefühl musste man ersticken, bevor es sich ausbreitete.
Mama hatte gar keine schlechte Laune – viel schlimmer, erfuhr Jürgen abends, als er im Bett lag. Sein Reich befand sich gleich neben dem Wohnzimmer. Vor dem Einschlafen hörte er manchmal Gesprächsfetzen, ohne eigentlich zu lauschen. Meistens allerdings herrschte Schweigen zwischen den Eltern. Aus dem Fernsehgerät rieselten Volksmusik, politische Kommentare oder – meistens – Sportmeldungen. An diesem Abend hingegen redeten Mama und Papa miteinander.
Mama: „Oma hat mir angeboten, Jürgen für den Rest der Sommerferien zu sich zu nehmen.“
Papa: „Und? Wann?“
Mama: „Übermorgen. Ich habe mit ihm allerdings noch nicht darüber gesprochen. Er wird wenig begeistert sein.“
Jürgen war entrüstet. Mich fragt niemand. Wie ein Buch, das man verleiht, schickt man mich zu Oma. Dabei mag ich sie nicht leiden; Mama weiß das genau. Warum tut man mir das an? Das Argument, das er nach einer Weile aufschnappte, war schlimm für ihn:
„Ich bin überlastet. Wenn der Junge fort ist, bedeutet das weniger Arbeit.“
Empörend! Sie ließ mich immer in dem Glauben, ich sei ihr eine große Stütze, dachte Jürgen wutentbrannt. Aber ich wurde wie ein kleines Kind beschwindelt, welches sich unbedingt nützlich machen will, tatsächlich jedoch nur im Weg steht. Dabei habe ich Julia gefüttert, beim Wäscheaufhängen und -abnehmen geholfen, die Windeln gefaltet. Es machte mir Spaß, obwohl das nun wirklich keine Jungenarbeit ist und ich immer befürchtete, Stefan oder Ben könnten mich dabei erwischen und auslachen. Und nun behauptet Mama, ich störe nur.
Jürgen fing an zu weinen, was lange nicht mehr vorgekommen war, vor lauter Zorn flossen die Tränen gegen seinen Willen. Da hörte er einen Satz, der ihn seinen Kummer, seinen Ärger, ja sogar sich selbst vergessen ließ.
„Ich wünsche, ich wäre tot“, sagte Mama, „und Julia gleich mit mir.“ Jürgen wurde unendlich traurig, verzagt wie nie zuvor in seinem Leben. Ein dicker, eiskalter Klumpen saß in seinem Magen. Jetzt versiegten sogar vor Kummer seine Tränen.
Jürgen erwachte am nächsten Morgen und fühlte sich – er wusste nicht warum – todunglücklich. Erst allmählich fiel ihm der Grund dafür wieder ein.
„Dein Papa und ich haben etwas beschlossen“, teilte Mama mit. „Du gehst ab morgen bis zum Ende der Ferien zu Oma.“
Jürgen nickte gehorsam. Mama hatte wahrscheinlich Rebellion und Trotz erwartet und atmete erleichtert auf, als er nicht widersprach, ohne sich zu fragen, warum der Junge so gefügig nachgab. Offensichtlich dachte sie längst wieder an etwas anderes.
Jürgen saß am Tisch, Julia auf seinem Schoß und blätterte in dem schon unzählige Male von ihm gelesenen Robinson-Crusoe-Buch. Seine Nase steckte jedoch nur scheinbar interessiert zwischen den Seiten, stattdessen beobachtete er Mama aus den Augenwinkeln, die den Frühstückstisch leer räumte, spülte, Kartoffeln schälte, die gewohnten Arbeiten wie üblich verrichtete. Schlank, mit kurzgeschnittenen Haaren, sah sie, obwohl älter als die Mütter seiner Mitschüler, noch jugendlich aus. Ihr Gesicht kam ihm heute fremd vor. Ich wünsche, ich wäre tot , hatte Mama gesagt. Wie wenig kenne ich sie, grübelte Jürgen. Niemals habe ich etwas von ihren schwarzen Gedanken geahnt. Nicht einmal reden kann man mit ihr darüber. So wie sie kein Wort über Liebe oder Zuneigung sagt, verschweigt sie auch ihren Kummer. Aber vielleicht fällt es Mama schwer, über Gefühle mit mir zu sprechen, weil ich ein unerträgliches Kind bin, so schrecklich, dass sie meinetwegen sterben will? Sie hat doch schon öfters gesagt, wenn auch lachend, als wäre das ein Witz, ich sei ein Nagel an ihrem Sarg. Eine Träne lief jetzt über ihr Gesicht. Wahrscheinlich sind nur die Zwiebeln schuld, die sie soeben schneidet, versuchte Jürgen sich zu beruhigen.
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