1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 „Da lies mal.“ Er aß von dem Kartoffelsalat, der, wie er sich widerwillig eingestehen musste, sehr lecker zubereitet war und schämte sich gleichzeitig, weil es ihm trotz seines Kummers so gut schmeckte. Oma überflog währenddessen den Bericht, saß dann regungslos und schwieg. Jürgen wartete verwundert auf einen Kommentar.
„Du musst dir die Geschichte mit Julia nicht so zu Herzen nehmen“, sagte sie schließlich. „Deine Eltern, die schon seit längerem Bescheid wissen, haben mich erst neulich eingeweiht, obwohl ich so etwas bereits seit geraumer Zeit befürchtete. – Das arme Würmchen“, fügte Oma noch hinzu.
„Wieso?“ Jürgen legte Messer und Gabel beiseite. Der Kartoffelsalat schmeckte ihm mit einem Mal nicht mehr. „Was ist mit meinem Schwesterchen?“
„Oh – ich dachte – ich glaubte – ich meinte, du wärst informiert“, stotterte Oma verlegen.
„Was hat der Zeitungsartikel mit Julia zu tun?“, wollte Jürgen wissen, der plötzlich Schlimmes ahnte.
„Nichts, wirklich nichts.“ Oma gab sich betont heiter. „Iß jetzt. Gleich kommt diese Schlagerwettbewerbsendung im Radio. Sollen wir die zusammen anhören? Ich bin so gespannt, wer diesmal Erster wird. Schafft „ Pack die Badehose ein“ es wieder? Ich hoffe doch sehr; die kleine Cornelia ist ja zu süß.“
Jürgen interessierte sich jetzt weder für Kartoffelsalat noch fürs Radio. Er war misstrauisch, fragte und bohrte. Danach wusste er, warum Mama nicht mehr leben wollte, Papa bedrückt wirkte, Julia weder laufen noch sprechen konnte. Die furchtbare Wahrheit erschreckte ihn so sehr, er musste mit jemandem darüber sprechen. Aber nicht mit Oma. Jürgen lief fort – zu Claudia, seiner älteren Schwester.
Zwei Monate nach seiner Ankunft schlenderte Jürgen am Strand entlang, Bauch eingezogen, Brust raus. In der Badehose mache ich doch die beste Figur, dachte er, braungebrannt, schlank, durchtrainiert vom Schwimmen und Kajak fahren. Es gibt nichts hässlicheres als einen nackten Mann , pflegte seine Mutter zu sagen. Wenn er daheim im Garten hinterm Haus spärlich bekleidet in der Sonne lag, hatte sie sogar schon einmal die Bemerkung fallen lassen: Schämst du dich nicht, dich so vor deiner kleinen Tochter zu zeigen? Nein, zum Schämen bestand kein Anlass, im Gegenteil, er fand sich toll. Dass seine Haut an Oberschenkeln und unter den Oberarmen erschlaffte, wurde von ihm einfach ignoriert.
Da lag die Urlauberin im Sand, die Jürgen vor drei Tagen zum erstenmal entdeckt hatte; nach ihrem frischen Sonnenbrand zu urteilen erst kürzlich angereist. Sie entsprach genau dem, was er suchte: Alleinreisend, nicht mehr die Jüngste, sichtlich Anschluss suchend, denn obwohl lesend, schaute sie immer wieder auf und hinterher, wenn ein Mann vorbeiging. Am Abend folgte Jürgen ihr vom Strand aus eine Weile auf der Uferpromenade. Er beobachtete, wie sie die Fahrbahn überquerte, an den Geschäften entlang bummelte, vor einem Schaufenster stehen blieb und die Bademoden eingehend betrachtete: Schwimmanzüge, Bikinis, Strandlaken, Frotteekleidchen. Als die Urlauberin auf die Villa Linda zusteuerte, wandte er sich enttäuscht ab. Obwohl nahe beim Strand gelegen, verfügte das Hotel nur über zwei Sterne. Wer hier abstieg, wollte preiswert Ferien machen, sich mit einfacher Küche begnügen, Zimmer mit wenig Komfort in Anspruch nehmen. Aber nein, die Fremde schaute nur die Straße rauf und runter, ging weiter, drehte den Ansichtskartenständer vor einem Laden, suchte ein Foto aus, steckte es wieder weg, interessierte sich nun für die Taschenbücher. Ob sie Italienisch sprach? Aber vermutlich gab es dort auch deutschsprachige Ausgaben für Urlauber. Anscheinend fand die Frau nichts, was ihr zusagte oder beabsichtigte gar keinen Kauf, hatte nur aus Neugier die Titel gelesen, oder aus Langeweile, um die Zeit totzuschlagen, die – so stellte Jürgen es sich zumindest vor – einer Alleinreisenden zwischen Strandaufenthalt und Abendessen lang wurde. Jetzt wandte sie sich wieder den Postkarten zu, drehte erneut den quietschenden Ständer. Diesmal nahm sie drei Karten heraus, verschwand, in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie kramend, im Laden.
Jürgen setzte sich wartend auf eine Bank, ließ die Urlauberin nach dem Herauskommen fünfzehn, zwanzig Schritte gehen, ehe er sich erhob und ihr auf seiner Straßenseite langsam schlendernd folgte. Grandhotel Miramare , das teuerste Hotel im Ort, tatsächlich, die Fremde betrat das Gebäude. Die prächtige Fassade zeigte einen Balkon vor jedem Riesenfenster mit Aussicht auf Strandpromenade, Palmen und Meer. Aber leider auch auf die Straße. Der Durchreiseverkehr wurde zwar um den Ort herumgeleitet, trotzdem ging es hier lebhaft zu, vor allem abends, wenn die einheimischen jugendlichen Vespafahrer auf und ab knatterten, mit laufendem Motor in Gruppen beisammen standen, aufheulend wieder abbrausten, quietschend bremsten, wendeten, zurückfuhren, bei einer anderen Clique anhielten. Dieses Spiel ging bis spät in die Nacht, das wusste er von seinen Abendspaziergängen, bei denen ihn Lärm und Abgase ärgerten. Trotzdem, das Grandhotel Miramare war die richtige Adresse. Vier Sterne. Sie musste Geld haben, war keine von den Billig-Urlaub-Macherinnen. Er hatte zwar keine Ahnung, wie das Innere aussah, konnte es sich aber von Fernsehfilmen her lebhaft vorstellen: Luxuriös ausgestatteter Speiseraum, stilvolle Bar, in Vitrinen ausgestellte elegante Bademode, Seidenschals mit dem Namensaufdruck bekannter Designer, edler, erlesener Schmuck, renommierte Parfümmarken, Souvenirs, dreimal so teuer wie in den Geschäften der Altstadt, aber wahrscheinlich auch geschmackvoller. Hinten raus Gartenanlage, Sonnenterrasse, Liegewiese, Swimmingpool. Komfortable Zimmer mit Klimaanlage, Minibar, Telefon und Fernsehgerät.
Die Urlauberin kam nicht wieder zum Vorschein, obwohl er zwei Stunden auf einer Bank wartete. Das Abendessen musste doch längst vorbei sein. Wahrscheinlich saß sie mit einem Buch in ihrem Zimmer oder auf einem dieser Balkone, die, durch Markisen hinter den schmiedeeisernen Geländern geschützt, keinen Einblick zuließen. Jürgen ging zum Campingplatz, kroch als es dunkel wurde in sein Zelt, legte sich auf die Luftmatratze. Hier in Italien ging es besser mit dem Schlafen, jedenfalls viel besser als zu Hause; das Schwimmen, Bootfahren, den ganzen Tag Aufenthalt an der frischen Luft, machten ihn üblicher Weise müde. Heute jedoch konnte er nicht schlafen, wegen der Hitze, der stickigen Luft. Zudem störten die beiden Mädchen im Zelt nebenan, die sich viel zu laut unterhielten und viel zu ausdauernd kicherten. Der Aufkleber Atomkraft, nein danke auf ihrer alten Schrottkiste mit deutschem Kennzeichen erinnerte ihn an Dora; nach seiner Schätzung waren sie auch etwa gleichaltrig. Mit ihnen anzubändeln kam nicht in Frage; er bevorzugte Frauen, die nach Geld aussahen. Das Lachen und Reden der Atomkraftgegnerinnen ging ihm auf die Nerven. Er steckte die Stöpsel seines Walkmans in die Ohren und hörte Schlagermusik. Zwölf Kassetten mit alten deutschen Hits, nach Jahrgängen geordnet, waren in seinem Gepäck. Vor dem Einschlafen spielte er jeweils eine, manchmal zwei, bis ihn der Schlaf überkam. Ab und zu bis Mitternacht wach zu liegen machte ihm allerdings auch nichts aus. Er stand zwar früh auf, spätestens um acht, trank eine Tasse Pulverkaffee, hatte keine Ruhe mehr, wollte hinunter zum Strand, zum Wasser, in der Sonne, bevor jemand seinen Platz belegte. Aber dort konnte er, war das mitgenommene Frühstück, bestehend aus Brot und Käse, verspeist, weiter schlafen.
Am nächsten Morgen, nach dem Markieren seines Stammplatzes mit einem Handtuch, saß Jürgen gegen neun Uhr auf einer Bank der Uferpromenade und beobachtete den Eingang des Miramare durch die Oleanderbüsche. Ein Urlauber, den dicken Bauch in Shorts gequetscht, T-Shirt, Sandalen an den Füßen, weiße Socken, Schirmmütze, mit Frau, deren gewaltiger Po ebenfalls in Shorts steckte, dem gleichen T-Shirt im Partnerlook, kam heraus. Er ist wahrscheinlich in meinem Alter, sieht aber zehn Jahre älter aus; das kommt davon, wenn man keinen Sport treibt, den ganzen Tag im Büro und abends vor dem Fernseher sitzt, dachte Jürgen verächtlich. Die Pärchen, die danach das Hotel verließen, ähnelten ihnen. In Freizeitkleidung, mit umgehängtem Fotoapparat, Badetasche in der Hand, strebten sie zum Strand, alles ältere Semester, die Jüngeren, Hübschen, Schlanken konnten sich diesen Luxusschuppen wahrscheinlich nicht leisten. Doch, eine langhaarige Blondine, ihren beleibten grauhaarigen Begleiter kokett anlächelnd, kam heraus. Den hat sie sich wahrscheinlich nur seines Geldbeutels wegen geködert, vermutete Jürgen. Damals, beim Kennenlernen, zählte Dora mit ihren achtundzwanzig zwar gerade mal halb so viele Lebensjahre wie er, aber das war natürlich etwas ganz anderes, dabei handelte es sich um Liebe. Am Geld konnte es ihrerseits kaum gelegen haben, denn er besaß nicht viel. Sie hingegen nannte ein Haus ihr eigen und verfügte seiner Meinung nach über ein dickes Bankkonto, was bei ihm eine große Rolle gespielt hatte.
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