Oma kam zu Julias Einjahr-Geburtstags-Feier, wie üblich zu Fuß, obwohl sie dreieinhalb Kilometer entfernt wohnte. Aber das Gehen zählte zu ihren Steckenpferden, wie sie gerne versicherte. Mama allerdings meinte, Oma sei zu geizig, Geld für die Busfahrt auszugeben. Seit fünf Wochen wohnten Jürgen, seine Eltern und das Baby am Stadtrand. Die alte Wohnung war zu klein für vier Personen. Julias Wiege hatte fast zwölf Monate lang im Elternschlafzimmer gestanden; auf die Dauer konnte das nicht so bleiben. In Jürgens winziger Kammer fand sich beim besten Willen kein Platz für ein weiteres Bett, meinten seine Eltern, obwohl er diese bis vor wenigen Jahren mit seiner älteren Schwester geteilt hatte. Sie mieteten ein Siedlungshaus im Grünen. „Mit Zentralheizung, Garten und Garage“, erzählte Papa jedem stolz, wenn er auch gar keinen Wagen besaß – niemand aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis verfügte damals über ein eigenes Auto –, selbst eine Zentralheizung hielt man noch nicht für selbstverständlich. Sie nannten außerdem als erste in der Verwandtschaft ein Fernsehgerät ihr eigen.
Aus welchem Grund war sein Papa brummig und noch schweigsamer als üblich? Hatten die Eltern Streit? Gefiel ihnen die neue Wohnung nicht? Warum nur lief seine Mama immer mit verweinten Augen herum? Jürgen fühlte sich todunglücklich. Niemand sagte ihm, was los war. „Das haben manche Frauen nach der Geburt eines Kindes“, tröstete Papa ihn vage in einem seiner wenigen mitteilsamen Augenblicke. Dann vertiefte er sich wieder in seine Zeitung. Die Geburt lag bereits ein Jahr zurück, dennoch gab Jürgen sich mit der Antwort zufrieden. Anscheinend gab es keinen Anlass zur Sorge, alles verlief normal.
Mama, Oma Berta, Julia und Jürgen waren allein bei der Einjahr-Geburtstags-Feier. Seine Mutter hatte ihm vorgeschlagen, einige Freunde zu Kakao und Kuchen einzuladen. Aber wen sollte er einladen? Hier gab es neben sechs Baustellen erst fünf fertige Häuser. In zwei von ihnen wohnten Stefan und Ben, die ein Jahr älter und bereits dicke Freunde waren. „Hau ab, Bübchen“, rief Stefan ihm einmal zu, als er ihnen beim Fußballspielen zusah und sehnsüchtig wünschte, mitmachen zu dürfen. Immerhin hatte er ihn wahrgenommen, wenn auch auf wenig freundliche Art. Ben übersah in glattweg. Die Tochter der Familie Mühlens von nebenan, Elisa, hatte Jürgen noch nicht gesehen. Sie sollte das Schuljahr in der alten Schule beenden und wohnte solange bei ihrer Tante.
Anfangs vermisste Jürgen kaum Gesellschaft. Total begeistert von seinem Schwesterchen, trug er sie durchs Zimmer, spielte mit ihr, saß im Garten, die Kleine neben sich auf einer Decke. Seltsamerweise krähte und juchzte Julia nie vor Vergnügen, blieb stets still und brav, zu brav. Aber da er keine Ahnung von Babys hatte, erschien ihm das normal. Manchmal schob er den Kinderwagen die Straße hinauf und wieder herunter; es war ihm egal, ob Ben und Stefan sich darüber lustig machten.
Als Julias Mahlzeiten Möhrenbrei, Hühnchen in Reis, Bananen-Zwieback-Mus hinzugefügt wurden, schmeckte Jürgen die Babykost beim Probieren. Mama schlug vor, auch ihm, der ein schlechter Esser war, Kleinkindnahrung zu geben. Erfreut sah sie, wie begeistert er sich über die Portionen hermachte.
Aber dann auf einmal änderte sich alles. Es fing ganz harmlos, sogar angenehm für ihn, an: War es ihm bisher verboten, sich alleine weiter vom Haus zu entfernen, stromerte er jetzt stundenlang ungehindert draußen umher, kroch unter Zäunen hindurch, lief durch die Wiesen, auf denen Kühe weideten, erkundete das nahegelegene Wäldchen, auch bei schlechtem Wetter. Seine Mutter bemerkte kaum, wie selbständig er sich machte, sie schien ihn nicht einmal zu vermissen. Hatte ihn bisher jeden Morgen seine Kinderwagen schiebende Mama auf dem zwanzigminütigen Schulweg bis zur Bushaltestelle begleitet, sollte er jetzt auf einmal alleine gehen, weil ihr die Zeit dafür fehlte. Ein bisschen ängstigte es ihn, der immer überbehütet worden war, anfangs schon. Andererseits freute er sich, weil seine Klassenkameraden aufhörten, ihm ‚Muttersöhnchen’ nachzurufen.
Julias Geburtstag war auch der erste Ferientag. Jürgen fürchtete sich vor den einsamen Sommerwochen ohne Spielgefährten. Würde er sich nicht bald langweilen? Aber dann erzählte Mama an diesem Geburtstagsmorgen, sie habe mit der Nachbarin zur Rechten, Frau Mühlens, gesprochen. Ihre Tochter sollte heute nach Hause kommen. Jürgen freute sich so auf Elisa, als habe er anstelle des Geburtstagskindes ein Geschenk bekommen; viel lieber allerdings hätte er mit den beiden Jungen gespielt.
Oma riss ihn aus seinen Gedanken: „Es stört euch doch nicht, wenn ich mein Gebiss ausziehe?“ Sie legte ihre neuen Zähne, die ihr noch Druckschmerzen verursachten, in ein mit selbstgehäkelter Spitze umrandetes Taschentuch gehüllt neben ihren Teller, steckte Kuchenbrocken in den Mund, mümmelte, spülte kräftig mit Kaffee nach.
„Julia kann sich immer noch nicht alleine aufrichten?“, fragte sie – zum wievielten Mal in den letzten zwei Monaten eigentlich schon? „Jürgen konnte in dem Alter schon laufen.“
Jürgen war stolz. Alles drehte sich in letzter Zeit ausschließlich um seine Schwester. Endlich beachtete ihn jemand, lobte ihn, wenn auch für etwas, das schon lange zurück lag.
„Jedes Kind ist anders. Das eine entwickelt sich schnell, das andere eben langsamer“, erklärte Mama nachdrücklich.
„Und wie ist es mit dem Sprechen?“, ging das Verhör weiter. „Ein paar einfache Wörter müsste Julia doch längst kennen.“ Mama sagte nichts mehr; Jürgen wusste, sie ärgerte sich. Oma sprach immer in vorwurfsvollem Ton. Als sei es die Schuld seiner Eltern, wenn sein Schwesterchen weder laufen, noch sich alleine zum Sitzen aufzurichten vermochte, und – außer einem knurrenden Brummen – keinen Ton hervorbrachte. Schweigend aßen sie. Julia, auf Mamas Schoß, schaute teilnahmslos vor sich hin, seiberte. Ein Bröckchen der Geburtstagstorte, das Oma ihr in den Mund schob, lief an einem Speichelfaden wieder heraus. Mit Entsetzen sah Jürgen Tränen in Mamas Augen schimmern.
„Reiß dich zusammen“, kritisierte Oma. Jürgen schmeckte der Kuchen nicht mehr. Die Missstimmung zwischen den Erwachsenen verdarb ihm den Appetit. „Willst du wohl brav sein. Ein Baby spürt die Unruhe“, hatte seine Mutter ihn öfters ermahnt. Warum benehmen die Erwachsenen sich dann so rücksichtslos? Julia fühlte doch sicher auch die schlechte Laune zwischen den beiden. Was mag sie denken? Denkt man überhaupt schon in dem Alter? Wenn ja, müsste man sich dann nicht zurückerinnern können? Jürgen überlegte. Ein rotes Tier fiel ihm ein. Aber damals war er schon etwa drei Jahre alt. Das rote Tier saß auf der Gardinenstange. Er schrie. Da kam Mama und tröstete ihn. Das Tier war verschwunden. Er hatte nur geträumt. Außerdem entsann er sich noch an einen Hund, der ihn angesprungen und umgeworfen hatte. Das war kein Albtraum gewesen, sondern Wirklichkeit. Seitdem fürchtete er sich vor Hunden – natürlich nur vor lebendigen, nicht vor dem kuscheligen Plüschpudel, Mamas Geburtstagsgeschenk für Julia. Oma hatte Bauklötze mitgebracht. Sie gab Mama den Karton: „Ich habe sie nicht eingepackt. Julia ist noch zu klein, um es zu bemerken.“ Aber auch Jürgen hatte noch nie ein hübsch eingewickeltes Geschenk von ihr erhalten, sie gab niemals Geld für unnütze Dinge wie Geschenkpapier und bunte Schleifen aus. Mama hielt übrigens genauso wenig von Krimskrams.
„Soll ich dir ein Gläschen holen?“, fragte Mama, woraufhin Jürgen zustimmend nickte.
Als sie mit dem Juniormenü Reis mit Hühnchen und feinem Gemüse zurückkam, fragte Oma fassungslos: „Du fütterst ihn doch nicht etwa mit Babynahrung in dem Alter ?“
„Er ist ein schlechter Esser. Ich bin froh, wenn er wenigstens davon etwas zu sich nimmt“, erklärte Mama.
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