Wie dem auch sei, er bleibt ein Parteimitglied, was natürlich seinem Vorteil diente, aber vielleicht nutzte er auch seine auswärtigen Aufgaben dazu, um sich selbst von den täglichen Aktivitäten der Nazis zu distanzieren. Es kamen Gerüchte über einen vom Nationalsozialismus enttäuschten Ernst vom Rath auf, die in der ausländischen Presse breiten Raum einnahmen. Am 7.Januar 1939 gab Gustav vom Rath hierzu vor dem französischen Untersuchungsausschuss eine ausführliche Erklärung ab. Nach der Versicherung, dass er hier als Zivilkläger gegen Herszel Grynszpan und dessen eventuelle Komplizen auftrete, machte er einige tendenziöse Angaben zu seinem Sohn. Schließlich, in Beantwortung einer Serie von Fragen des Untersuchungsausschusses, nahm der alte vom Rath zu gewissen Berichten in der Presse Stellung.”In der Absicht, die Wahrheit wieder ans Tageslicht zu bringen, die Entstehung irgendwelcher falschen Legenden zu verhindern, versichere ich mit allem Nachdruck, dass mein Sohn ein Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung gewesen ist. Er trat bereits 1932 in die Partei ein, das heißt bevor die Partei an die Macht kam. Er war total einverstanden mit der Regierung und war dem Nationalsozialismus voll zugetan. Was mich betrifft: Ich war Regierungsrat seit 1919 und bin jetzt pensioniert. Ich lebe im vollen Einverständnis mit den politischen Ansichten meines Sohnes. Es ist sehr peinlich für mich in gewissen Zeitungen zu lesen, dass mein Sohn Differenzen mit meiner Regierung hatte und dass anlässlich seiner Beerdigung ich einen Streit mit dem Führer gehabt haben soll. Ich erkläre, dies sind alles nur Lügen. Es ist auch ein Gerücht, dass ich in ein KZ gebracht worden bin. Ich denke, meine Anwesenheit in diesem Gerichtssaal, zusammen mit meinem Sohn Guenther, widerlegt diese Lüge ausreichend.”
Ob die demonstrative Loyalitätserklärung des Herrn vom Rath zum Naziregime aus eigenem Bedürfnis geschah? Oder ist sie ihm nachdrücklich von offizieller Seite ans Herz gelegt worden? Eine derart penetrant wirkende Aussage entspricht eigentlich nicht dem Charisma des Gustav vom Rath. Die Familie war viel zu schmerzerfüllt, viel zu rücksichtsvoll und diskret, um ein Statement solcher Art bezüglich des Todes ihres Sohnes abzugeben. Ein bisschen weiß man ja auch von Ernst vom Raths Sympathie für die Juden. Einer seiner früheren Kollegen bezeugte nach dem Krieg, dass vom Rath die Maßnahmen der deutschen Regierung gegen die Juden bedauerte, weil sie seinem humanistischem Geist widersprachen, aber er ist nicht energisch genug dagegen aufgetreten, weil er glaubte, sie seien für das deutsche Nationalwohl anscheinend notwendig. Eine andere Zeugin, Fräulein Ebeling, seinerzeit Dienstmädchen in Paris, sagte aus, Ernst vom Rath habe in ihrer Gegenwart niemals eine Meinung über die Juden fallengelassen. Sie hatte stets den Eindruck, weder er noch seine Eltern seien antisemitisch eingestellt gewesen. Sie fügte hinzu:” Das Privatleben des jungen Mannes ist sehr anständig verlaufen. Er besaß nur fünf persönliche Freunde und generell lebte er sehr zurückgezogen.” Was seinen Charakter betraf, bescheinigte ihm Fräulein Ebeling, es wäre sicherlich schwierig einen freundlicheren und dankbareren Menschen als ihn zu finden. Wir wissen ferner von vom Raths großer Liebe für Frankreich. Anfangs besaß er eine recht dürftige Kenntnis der französischen Sprache, aber dann begann er bei Mademoiselle Taulin Stunden zu nehmen, zuerst während des Sommers 1934. Sie schwärmte regelrecht von dem jungen Mann mit der großen Intelligenz und den perfekten Manieren. “Sein extrem zurückhaltendes und ruhiges Wesen war außergewöhnlich”, sagte sie. “Ich habe bei ihm niemals das leichteste Anzeichen von Gedanken und Ausdrücken beobachtet, welche die Gefühle des Anderen verletzen könnten oder ordinär gewesen wären.” Er kannte französische Familien und wurde gern von ihnen nach Hause eingeladen. Ansonsten war sein gesellschaftliches Leben eher spartanisch ausgerichtet. Der Privatsekretär des Botschafters, Theodor Auer, gehörte zu vom Raths wenigen Freunden. Wie der Botschaftskollege berichtete, gingen sie hauptsächlich wegen der angegriffenen Gesundheit Ernst vom Raths mitunter gemeinsam spazieren. Ebenso erwähnt Auer, dass vom Raths Privatleben ohne “Episoden” verlief, er hätte sich immer sehr moderat ausgedrückt. Wir werden wahrscheinlich nie etwas über die wahren Gefühle des jungen Diplomaten gegenüber dem Naziregime erfahren. Wenn es stimmt, was man von ihm sagt, so hat er eine gehörige Portion Naivität beim damaligen Eintritt in die Partei an den Tag gelegt, die man am besten mit jugendlichem Leichtsinn umschreibt. Der alte vom Rath wurde während des Krieges in den Dienst zurückberufen und erhielt eine Stellung bei der Gestapo, in Eichmanns Ressort. Er war für Ausreisefragen der Juden zuständig. Bekanntlich bemühte er sich dabei, den Opfern der Nazis zu helfen.
3. Kapitel: Der Tod Ernst vom Raths
Nach dem der Amtsgehilfe Wilhelm Nagorka seinen Besucher bis zum Büro Ernst vom Raths gebracht hatte, ging er in das Zimmer des Botschafters Graf von Welczeck. Dort angekommen, will er Hilferufe aus dem Arbeitsraum Ernst vom Raths gehört haben, über eine Entfernung von 27 Metern hinweg. “Ich eilte sofort zum Büro und traf unterwegs den verletzten vom Rath. Ich ging ins Büro und verhaftete Grynszpan, der bewegungslos dastand. Die neben dem Büro von Raths liegenden Zimmer waren leer. Dadurch ist es erklärlich, dass die Schüsse nicht gehört wurden. Ich hörte erst die Hilferufe, die Herr vom Rath ausstieß, nach dem er das Büro verlassen hatte und während er im Korridor lief”, gibt Nagorka zu Protokoll. Von einem zweiten Amtsgehilfen, der Nagorka bei der Verhaftung und Übergabe an die französische Polizei zu Hilfe kam, lesen wir nur etwas in der Anklageschrift des Oberreichsanwalts, allerdings ohne Nennung des Namens. Ich zitiere: “Hierauf fasste Nagorka den Angeschuldigten beim Arm und führte ihn zusammen mit einem weiteren Hauswart...vor die Tür des Botschaftsgebäudes, wo er ihn dem dort befindlichen französischen Schutzmann Autret mit der Erklärung übergab, dass der Angeschuldigte soeben auf einen Botschaftssekretär mehrere Schüsse abgegeben habe. Auf dem Wege zur Tür des Botschaftsgebäudes äußerte der Angeschuldigte zweimal: “Dreckiges Schwein”.
Nach eben jener Anklageschrift - und nur darauf können wir uns berufen - sollen sich zwei Beamte der Botschaft um den Getroffenen bemüht haben. Der Legationssekretär Ernst von Achenbach und der Botschaftskanzler Kurt Bräuer. Sie wären nach den Hilferufen Ernst vom Raths aus ihren Zimmern gekommen und hätten dann ihren Kollegen in dessen Dienstraum am Boden liegend vorgefunden. Auf ihre Frage, was denn eigentlich vorgefallen sei, hätte vom Rath geäußert, er wäre vom Angeschuldigten alsbald nach dessen Eintritt in seinen Amtsraum beschossen worden, aus Rache für die nach Polen ausgewiesenen Juden.
Die erste Hilfe ist dann schnell durch von Achenbach und Bräuer organisiert worden. Sie meldeten sofort ein dringendes Gespräch zu einem der Botschaftsärzte, zu Dr. Claas, an. Der Anrufer handelte sofort und veranlasste die Einlieferung des Schwerverletzten in die Universitätsklinik, 166 rue de l` Universite. Prof. Dr. Baumgartner als leitender Chirurg der Deutschen Botschaft wurde zum Krankenbett Ernst vom Raths gerufen. Er blieb gleich dort und übernahm die weitere Behandlung des Patienten. Gleich nach der ersten Untersuchung erwogen die Mediziner, das vermeintliche Opfer eines Anschlags ins Amerikanische Hospital, in der Vorstadt Neuilley gelegen, zu verlegen, doch angesichts der durchrissenen Milz und mehrerer innerer Blutungen musste sofort operiert werden, ohne die Zustimmung vom Raths abzuwarten. Prof. Baumgartner nahm den komplizierten Eingriff vor. Nach der Entfernung der Milz musste die Magenwand genäht und die Blutgerinnsel entfernt werden. Vom Rath erhielt massive Bluttransfusionen unter Oberaufsicht des berühmten Spezialisten Dr. Jube`. Der Spender, Besitzer eines Pariser Restaurants und ein hochdekorierter Kriegsveteran, machte Schlagzeilen. In den letzten acht Jahren hatte Monsieur Thomas mehr als hundert Mal Blut gespendet. Nun tat er es für einen Deutschen, einem Angehörigen der Deutschen Botschaft! Die Presse bejubelte ihn. Sein “Heldentum” nutzte die deutsche Propaganda aus, um daraus angesichts des bevorstehenden Ribbentrop-Besuches ein Symbol der deutsch-französischen Freundschaft abzuleiten. Eine Freundschaft, welche das “Weltjudentum”, gemeint war Herszel Grynszpan, gewaltsam zerstören wollte. So der Tenor in Goebbels Interpretation.
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