Er erzählte Ingrid Hansson von der Frau, aber die schüttelte nur den Kopf. 'Keine Sorge, die alte Frau gehört zur Pforte.' Sie bemerkte, dass er sie verständnislos ansah. 'Ich erkläre Ihnen das heute Abend. Sie sollten den Lord nicht warten lassen.'
Widerwillig ging Georg Milden zur Tür und trat auf die Straße. Auf der Straße waren einige Menschen unterwegs. Sie alle trugen diese seltsam altertümliche Kleidung. Vor dem Gasthaus stand eine Kutsche, und bei deren Anblick blieb dem Mann fast das Herz stehen. Genau genommen war es nicht die Kutsche, vielmehr waren es die beiden Zugtiere. Solche Tiere hatte er noch nie gesehen, nicht einmal in Fantasy-Filmen. Sie hatten eine entfernte Ähnlichkeit mit Büffeln und ein zotteliges Fell. Aber obwohl ihre Hinterbeine ausgesprochen kräftig waren, so waren ihre Vorderläufe erstaunlich dünn und wesentlich kürzer.
Neben der Kutsche standen zwei Männer. Der Ältere trug etwas, das wie eine Livree aussah, der jüngere ein Kettenhemd und ein Schwert. Die beiden Männer bemerkten, wie er die Tiere anstarrte. Der Ältere räusperte sich. 'Seid gegrüßt, Anderländer. Ich bin Haigar vom Jagdfeld, Herold des Ehrenwerten Lords Firrenbrock. Der Ehrenwerte Lord wünscht Euch zu sprechen.' Er sah, dass Georg Milden die Augen nicht von den Tieren abwenden konnte. 'Ich vermute, Anderländer, dass Ihr noch nie ein Sassol gesehen habt?' 'Sassol?' 'Diese Tiere dort, Sassols, Zugtiere.' 'Habt Ihr denn keine Pferde?' 'Ich habe von Pferden gehört. Die meisten Anderländer wundern sich, wenn sie zum ersten Mal Sassols sehen. Aber nein, Pferde gibt es in Sequitanien nicht.' Der Herold bemerkte, dass der Fremde noch Fragen hatte.
'Wenn Ihr nun bitte einsteigen wollt, der Ehrenwerte Lord erwartet Euch.' Widerstrebend bestieg Georg Milden die Kutsche. Der Schwertträger fungierte auch als Kutscher, und so setzte sich das Gefährt, gezogen von den seltsamen Tieren in Bewegung. Sie fuhren die Dorfstraße entlang und erreichten bald das offene Feld. Die Straße war nichts weiter als eine Erdpiste zwischen den Feldern. Weit und breit gab es nichts als Felder, ein paar Bauernhöfe, kleine Waldstücke, ein weiteres Dorf. Keine Straßen, jedenfalls keine asphaltierten Straßen, keine Strommasten und nichts was nach 21. Jahrhundert aussah.
Nach einer kurzen Weile erreichten sie eine Weggabelung, und die Kutsche bog nach links ab, genau in Richtung auf den Wald, aus dem Georg Milden gestern Abend herausgekommen war. Mit einem Mal ergriff ihn eine schon verloren gegangene Zuversicht. Es war eben doch alles nur ein schlechter Scherz. Irgendwie war alles nur Fassade, eine sehr eindrucksvolle Fassade, das musste er zugeben. Und natürlich sahen diese Tiere, die 'Sassols', täuschend echt aus. Aber hinter dem Wald würden sie auf die Landstraße stoßen, auf der er gestern stecken geblieben war, und die er gut kannte. Sie würden vielleicht gut einen Kilometer von der Stelle entfernt auf die Straße stoßen, an der sein Auto parkte. Im Licht der Kameras würde ein grinsender Showmaster ihn begrüßen und ihm und den Zuschauern erklären, was das alles sollte. Dann würde der Showmaster ihn, Georg Milden, fragen, wie er sich gefühlt hätte. Und er, Georg Milden, würde dem Showmaster vor laufender Kamera in die Fresse hauen. Dann wäre der Albtraum vorbei. Mit einem Mal befiel ihn eine angenehme Leichtigkeit. Und er würde auch heute nicht mehr ins Büro gehen, denn das konnte nun wirklich niemand von ihm verlangen.
Die Kutsche bog in den Wald ein und fuhr stetig weiter. Dann führte der Weg wieder aus dem Wald hinaus, und Georg Milden fühlte, wie alle Hochstimmung ihn verließ. Da war keine Straße. Da war auch kein Platz für eine Straße. Da war vielmehr ein nettes kleines Tal, durch das ein Bach floss, an dem ein kleiner Weiler lag. Und am Rande dieses Weilers stand ein eindrucksvolles Herrenhaus, und auf dieses Herrenhaus fuhren sie zu.
Das alles war keine Fernsehkulisse: das Gasthaus, in dem er übernachtet hatte, die Sassols, die Männer in ihrer lächerlichen Kleidung. Er war nicht mehr außerhalb von Köln, Georg Milden war in Sequitanien, wo immer dies liegen mochte. Die Kutsche hielt vor dem Herrenhaus, das etwas abseits von den anderen Häusern des Weilers auf einem kleinen Hügel lag. Hier stand am Tor ein Wächter, der ebenfalls mit einem Schwert bewaffnet war. Der Herold stieg von der Kutsche herunter und wies Georg Milden an, ihm zu folgen.
Sie betraten das Haus. Die Blicke des Wächters folgten ihnen, doch er blieb auf seinem Posten, als sie durch die Tür traten. Die beiden Männer befanden sich in einem riesigen Treppenhaus, von dem aus eine Treppe in die oberen Stockwerke führte. Doch anstatt die Treppe hochzusteigen, führte der Herold den Besucher durch einen breiten Gang, an dessen Ende sich ein Salon befand. Die Tür stand offen.
An der gegenüberliegenden Seite eröffneten große Fenster den Blick auf einen kleinen Park. An den anderen Wänden hingen Bilder, an einer Wand stand außerdem ein Bücherregal. In der Mitte des Raumes befanden sich ein paar Sessel, die um einen kleinen Tisch herum aufgestellt waren. Und dort wartete ein relativ kleiner und ziemlich dicker Mann, fast kahlköpfig, der eine weiße Bluse und eine dunkelblaue Weste trug. Ohne sich aus seinem Sessel zu erheben, winkte er dem Herold zu. Dieser stieß Georg Milden leicht an und deutete mit einem knappen Nicken auf einen der leeren Sessel. Der Dicke wartete, bis sein Besucher Platz genommen hatte. 'Seid gegrüßt Anderländer. Ich bin Lord Firrenbrock, Magistrat dieses Amtsbezirks. Und es ist Sitte, dass ich die Anderländer, die in meinem Amtsbezirk durch die Pforte gekommen sind, hier empfange.' Georg Milden wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
'Wie ist Euer Name, Anderländer?' 'Georg Milden, und ich muss sagen, ich bin verwirrt.' Der Lord nickte verständnisvoll. 'Das wundert mich nicht. Der Weg durch die Pforte muss für Euch eine Überraschung gewesen sein. Und wie Ihr zweifelsohne bereits gesehen habt, unterscheidet sich Sequitanien in vielen Dingen von Anderland.' 'Da haben Sie Recht, Lord Firrenbrock. Es ist alles verwirrend, wie ich schon sagte.' 'Nun, ein Glas Wein kann nicht schaden. Der Wein schmeckt hier jedenfalls nicht viel anders als in Anderland, so hat man mir zumindest versichert.' Ein Diener war lautlos in den Salon getreten und brachte ein silbernes Tablett mit einer gläsernen Karaffe und zwei Weinkelchen. Der Herold hatte sich unterdessen ebenso unbemerkt entfernt.
Der Diener schenkte ihnen ein und der Lord prostete seinem Gast aufmunternd zu. Der Wein jedenfalls war nicht schlecht, ein dunkler Roter, aber er unterschied sich im Geschmack doch etwas von den Weinen, die der Anderländer kannte, irgendwie erdiger. Aber Georg Milden bemerkte, dass der Wein ihm gut tat. Er entspannte sich etwas. Währenddessen sah in der Lord aufmerksam an.
'Nun, wir heißen alle Anderländer, die nach Sequitanien kommen, willkommen. Wir verlangen lediglich, dass sie sich an unsere Gesetze halten. Diese sind nicht sehr kompliziert. Man darf einem anderen Menschen nicht wissentlich Schaden zufügen, ihm nichts wegnehmen, ihn nicht verletzen oder gar töten, Ihr wisst schon. Ansonsten werdet Ihr ohne Frage schnell lernen.' 'Um ehrlich zu sein interessiert mich viel mehr, wie ich wieder nach Hause zurückkomme. Ich habe eigentlich nicht vor hierzubleiben. Sagen Sie mir nur, wie ich wieder zurückkomme, nach Anderland, wie Sie das nennen.'
Der dicke Lord lächelte seinen Besucher beschwichtigend an. 'Nun, das verstehe ich, mein Herr. Wirklich, das verstehe ich. Es ist nur so, ich weiß nicht, wie man von hier nach Anderland kommt. Es soll Anderländer geben, die den Weg zurück gefunden haben, so habe ich gehört. Aber ich weiß nicht, wie das gehen sollte. Also müsst Ihr wohl erst einmal wohl oder übel hier bei uns bleiben. Und damit stellt sich natürlich die Frage, wie Ihr Euren Lebensunterhalt bestreiten werdet.'
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