Markus Vieten
Freeland
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Inhaltsverzeichnis
Titel Markus Vieten Freeland Dieses ebook wurde erstellt bei
Vlieland, Sommer 1983
1
2 Vlieland Sommer 1983
3 Sommer 1983
4
5 Sommer 1983
6
7 Sommer 1983
8
9 Sommer 1983
10
11 Amsterdam, Sommer 1983
12 Vlieland, 1989
13 Amsterdam, Sommer 1983
14 Vlieland, 1992
15
16 Amsterdam, Sommer 1983
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Impressum neobooks
Wenn nur endlich die Schreie aufhören würden.
Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu, den Kopf drückte sie in einen Stapel Decken, der neben ihr auf dem Boden lag. Es nützte nichts. Noch immer hörte sie die Schreie ihrer Schwester. Es war reiner Zufall, dass sie hier in der Ecke zwischen ein paar alten Fahrrädern und Kisten hockte. Am morgen hatte Marijke eine kleine Maus gefunden. Ganz zutraulich war sie, aber auch schwach, vielleicht krank. Sie brauchte ihre Hilfe. Sie hasste es, wenn die Eltern Mausefallen aufstellten. Sie hasste auch die Katzen, die Mäusekörper stückchenweise im Haus verteilten. Sie konnte Katzen nicht ausstehen.
Sie hatte sich mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen, um nach ihrer kleinen Freundin zu sehen. Sie musste ganz leise sein. Ihre Eltern durften nichts merken. Aber sie musste diese Maus, ihre Maus, einfach retten. Also ging sie mit einer kleinen Taschenlampe in die Scheune, um nachzusehen, ob die Maus den Käse angenommen hatte, den sie ihr gebracht hatte. Der Käse war weg, aber auch die Maus sah sie nicht, und plötzlich hörte sie Stimmen, die sich rasch näherten.
Erschrocken schaltete sie die Taschenlampe aus. Sie erkannte die Stimme ihrer Schwester Els, die mit jemandem sprach. Sie keuchte. Die Schuppentür wurde aufgerissen. Ein Mann redete auf sie ein. Marijke verstand kein Wort. Es hörte sich an, als würden sie kämpfen. Marijke traute sich nicht hinzusehen. Dann waren da das Keuchen und dann die Schreie. Marijke hatte Angst. Sie fasste all ihren Mut zusammen und lugte vorsichtig um die Ecke des Regals. Els lag vornüber gebeugt auf dem großen Tisch in der Mitte des Schuppens zwischen leeren Marmeladengläsern, Töpfen mit vertrockneter Farbe, alten Lappen und Kartons mit Sachen, die irgendwann irgendwo eingeräumt werden sollten. Marijke verkroch sich wieder hinter dem Regal. Sie hielt sich die Ohren zu und betete, dass es endlich vorbei sein möge. Wie aus weiter Ferne vernahm sie manchmal ein Rumpeln und immer die erstickten Schreie ihrer Schwester. Dann quietschte die Schuppentür und es war total still. Langsam nahm sie wieder die Hände herunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig schob sie den Kopf vor. Sie konnte die Beine ihrer Schwester sehen, die regungslos über der Werkbank lagen, wie tot.
Sie wollte sich aufrichten, um nach Els zu sehen, als sie erneut Schritte hörte. Vielleicht hatte der Mann sie doch bemerkt und kam jetzt zurück, um auch sie zu töten. Panisch flüchtete sie durch die alte Schweineklappe in der Rückwand der Scheune ins Haus zurück. Wenn sie im Bett einfach die Augen zumachte, wäre morgen früh vielleicht alles wieder gut. So war es bisher immer gewesen. Ihre Maus musste jetzt allein klar kommen.
Marijke riss die Augen auf. Wieder ein Schrei. Schrecklich laut, durch Mark und Bein. Die Angst aus der Nacht war sofort wieder da, es hatte nicht geholfen.
Zuerst glaubte sie, wieder ihre Schwester zu hören, doch dann erkannte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Wie durch Watte hörte sie jemanden über den Platz laufen. Solche festen Schritte machte ihr Vater. Die Neugier war jetzt stärker. Sie stieg aus dem Bett und schaute mit klopfendem Herzen herunter auf den Hof. Alles war in Aufruhr. Der Vater lief hin und her, die Mutter hielt sich den Kopf, als drohe er auseinanderzufallen. Dann sprach ihr Vater mit jemandem, wahrscheinlich am Telefon. Sie hörte die Worte Notarzt und Polizei. Langsam öffnete sie die Zimmertüre. Ihr Vater klang verzweifelt. Els Name fiel.
Als sie zögerlich ein paar Stufen die Treppe heruntergegangen war, erblickte ihr Vater sie und kam ihr entgegen. Er hob sie auf seine starken Arme.
„Es ist etwas Schreckliches passiert, mein Schatz. Die Els…“, doch weiter kam er nicht. Er schluchzte, vergrub sein großes, kratziges Gesicht an ihrem Bauch. Ihr Vater weinte. Er drückte sie so fest, dass sie einen Moment befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf den Fußboden. Sein Gesicht war nass von Tränen.
„Ich muss mich jetzt um einiges kümmern, auch um Mama, Schatz, sei so gut, nimm Dir selbst etwas zum Frühstück." Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt, strich ihr sanft über das blonde Haar. Liebevoll lächelte er sie durch sein tränennasses Gesicht an.
„Papa!“
So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, so stark, so schwach, so traurig. Etwas Schlimmes war passiert, mit Els. War sie wirklich tot?
Er kehrte ihr den Rücken zu und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sein Herzschlag langweilte ihn. Er klopfte ewig gleich in seiner Brust, mal im Hals oder in den Ohren. Frau Seipold saß ihm gegenüber, redete und redete, aber er hörte sie nicht. Er setzte einen mitfühlenden Blick auf und versuchte, im richtigen Moment zu nicken und gelegentlich den Kopf zu schütteln. Meistens passte beides, irgendwie. Besonders bei jemandem wie Frau Seipold. Sie wirkte mit ihrer Handtasche, dem grauen Rock und der Einkaufstasche neben sich so alt. Ihr Geburtsdatum auf der Karteikarte verriet jedoch, dass sie nur wenige Lenze mehr auf ihrem beginnenden Buckel hatte, als er selbst, wofür er sie am meisten verachtete. Sie schüttete ihm ihr Herz darüber aus, dass sie den Kontakt zu ihrer Tochter und dem Enkelkind verlor. Diese Frau mit ihrer Osteoporose und ihrer Verstopfung stand für Alter, Leid und Klagen. Damit hatte Fred nichts zu tun, das war ein anderes Leben. Seines hatte doch gerade erst angefangen, dachte er, bis er am nächsten Spiegel vorbeikam.
„Wenn ich mit ihr telefoniere, ist es, als redete ich mit einer Wand.“ Sie schaute auf ihre Hände, die ein unruhiges Eigenleben am Saum ihrer Strickjacke führten.
Fred nickte ernst. In Gedanken war er beim Abendessen. Früher hatte er gerne gekocht, mit Caro in der ersten Zeit auch gerne zusammen, abends, wenn die Kleine im Bett war. Aber jetzt, wo Danni pubertierte, aß sie einem die Haare vom Kopf – Mädchen hin oder her. Und manchmal war am Abend für ihn nur noch der Rest in den ungespülten Töpfen vom Mittag übrig oder es gab ein Fertiggericht. Fred tat dann so, als reichte es ihm. Einer dieser vielen Kompromisse, die ihm allmählich das Leben vermiesten. Vielleicht würde er sich einen dieser großen italienischen Salate kommen lassen. Es war warm draußen, schon fast ein Sommertag, dann schmeckte das Grünzeug besonders gut. Von diesem Gedanken war es auch nicht mehr weit zu seinem Therapievorschlag – intuitive Medizin.
„Ich werde Ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben, damit Sie besser einschlafen können. Und – versuchen Sie daran zu arbeiten”, sagte Fred, wobei er Frau Seipel tief in die Augen blickte.
„Ja, Herr Doktor, vielen Dank. Soll ich dann in zwei Wochen wiederkommen?“
„Ja, unbedingt! Lassen Sie sich vorne von Evelyn einen Termin geben.“
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