Markus Veith - Die erste Bahn

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Kai Trollmann verpasst die letzte U-Bahn. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf die erste Bahn des nächsten Morgens zu warten. Er bekommt Gesellschaft von Helen, einer älteren Frau.
"Ich bin deine Tochter. Ich komme aus der Zukunft. Und ich werde dich erschießen."
Durch eine fatale Wendung werden sie gezwungen, die Zeit bis zur Ankunft der Bahn gemeinsam zu verbringen: Kai und seine mögliche Zukunft. Helen und das vergangene Leben mit ihrem Vater. Und eine Gegenwart, die alles verändern könnte.

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Die erste Bahn

Markus Veith

April 2021 OCM GmbH Dortmund Alle Personen und Geschehnisse sind frei - фото 1

© April 2021 OCM GmbH, Dortmund

Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Personen.

Gestaltung, Satz und Herstellung:OCM GmbH, Dortmund

Verlag:OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-89-4

© UmschlaggestaltungOCM GmbH mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung der Dortmunder Stadtwerke AG – DSW21 Motiv: U-Bahnstation Westfalenhallen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

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Die U-Bahn-Station Bachstraße war menschenleer.

Um 00:15 Uhr kündigte die elektronische Anzeigetafel die Ankunft der Linie 102 an; der letzten Bahn, die in dieser Nacht die Haltestelle durchfahren sollte.

Eine Minute später fuhr die Bahn ein, ganz wie es der Fahrplan vorsah. Im Innern befanden sich nur noch wenige Fahrgäste. Die Falttüren der Bahn wurden geöffnet, weil es in unterirdischen Stationen Vorschrift war. Niemand stieg aus. Und es war niemand da, der hätte einsteigen können.

Der Fahrer freute sich auf seinen Feierabend. Es war eine typische Sonntagsschicht gewesen, ruhig und ohne Rush Hour. Fünf der unterirdischen City-Haltestellen auf dieser Strecke hatte er nun hinter sich, noch zwei, dann führten die Schienen ihn wieder an die Oberfläche, wo sicher weiterhin das Novembergewitter niederging. Er betätigte den Schalter, der die Falttüren zuklappen ließ. Im selben Moment hörte er, wie auf der in die Innenstadt führenden Seite der Station eine der beiden Rolltreppen anlief. Gleichzeitig vernahm er das Poltern von Sprüngen auf den nach unten gleitenden Stufen, mit dem ein unpünktlicher Fahrgast noch eilig den Anschluss bekommen wollte. Aber der Fahrer hatte die Bahn schon in Bewegung gesetzt. – Er war pünktlich gewesen. Und er fuhr die letzte Bahn. Damit hatte sich diese Geschichte für ihn erledigt. Für den Fahrer war sie Vergangenheit.

Dies ist die erste Morgenstunde des 14. Novembers 2004. Und für jenen jungen Mann, der die letzten Stufen mit einem Sprung nimmt und zu einem Sprint ansetzt, wird diese Nacht für den Rest seines Lebens Gegenwart bleiben.

Er rennt wild winkend und rufend obwohl er ahnt wie aussichtslos sein - фото 2

Er rennt, wild winkend und rufend, obwohl er ahnt, wie aussichtslos sein Bemühen ist. Seine zornigen Flüche, welche er den roten Lichtern hinterherbrüllt, vermögen die U 102 nicht mehr zu stoppen. In seiner Rage will er die fast volle Flasche Korn in Richtung des Tunnels schleudern, dessen Dunkel die Bahn verschluckt hat, kann sich aber gerade noch zurückhalten. Stattdessen kickt er eine im Weg liegende Coladose über die Gleise. Sie prallt gegen die Stationswand, schwappt einen bräunlichen Stern auf die Kacheln und klackert zwischen die Schwellen.

Keuchend, vom Regen durchnässt und zitternd bleibt der junge Mann eine Weile stehen, die rechte Hand in die stechende Seite gestemmt, die Flasche in der schlaff hängenden Linken. Wassertropfen plitschen zu Boden. Schließlich sieht er zur Anzeige hinauf. Den ganzen Tag über hat sie stetig kommende Bahnen angekündigt. Nun verharrt sie in stummer Schwärze. Die Uhr daneben zeigt 00:16. Rasch eilt der Mann zu dem Schaukasten, in dem die Fahrpläne aushängen.

Er findet seine Befürchtung bestätigt. „Scheiße“, ächzt er kraftlos.

Er blickt zum Aufgang, zu der inzwischen reglosen Rolltreppe, hört, wie oben in der Außenwelt der Regen in Strömen auf das Glasdach des Zugangs prasselt. Resigniert analysiert er seine Situation: Bis nach Hause sind es etwa acht Kilometer, eher mehr als weniger. Er besitzt zwar ein Handy, doch liegt das daheim am Aufladekabel. Seine nach diesem Abend verbliebene Barschaft beläuft sich auf zwei Euro und 90 Cent; was für den Erwerb einer Fahrkarte Preisstufe B genügt hätte, aber nicht für eine Heimfahrt mit einem Taxi. Die Idee, einen Geldautomaten aufzusuchen, scheitert an der Erkenntnis, dass er keine Ahnung hat, wo im Umkreis der nächste zu finden ist. Und wie um die Ungemütlichkeit zu betonen, die ein Marsch bei diesem Wetter ohne Regenschutz bedeuten würde, grollt in diesem Moment eine Donnersalve von der Oberwelt zu ihm hinab. Auch das Prasseln des Regens verstärkt sich, als wolle das Gewitter in die U-Bahn-Station brüllen: ‚Kai Trollmann, du Arschgesicht! Bleib gefälligst, wo du bist!‘

Der junge Mann schaut erneut zu der Uhr empor und rechnet. Vier Stunden und sechzehn Minuten bis zur Ankunft der ersten Bahn. „Scheiße.“

Frustriert schlurft er zu der Bank in der Mitte des Bahnsteigs und lässt sich auf einen der Sitze sinken. Es sind Hartschalen aus Kunststoff, fleckig orange und abgeschabt vom Gebrauch tausender Hintern und Taschen. Er schraubt den Verschluss der Flasche ab, trinkt und verzieht das Gesicht, als der Kornbrand in seinem Innern hinabrinnt. ‚Wenigstens Onkel Otto leistet mir Gesellschaft‘, denkt er, während er das Etikett betrachtet.

Fünfzehn Euro hat er für die Pulle berappt, kurz bevor der Kiosk dichtmachte. Ein Frustkauf. Sein Erlebnis in der vergangenen Stunde hat die Wirkung des über den Abend konsumierten Alkohols unerträglich abgeschwächt. Er nimmt einen weiteren Schluck. Und unvermittelt wird ihm klar: Hätte er auf Onkel Ottos Gesellschaft verzichtet, könnte er nun in einem Taxi sitzen und in absehbarer Zeit zu Hause sein. „Scheiße“, murmelt er erneut und trinkt.

Was für ein Tag … was für ein Abend!

Er spürt ein unangenehmes Druckgefühl im Schritt und rückt es mit der freien Hand beiseite. Nach einem weiteren Schluck merkt er, wie dumpfer, warmer Nebel hinter seine Stirn wallt. Benommen sieht er sich um.

Die U-Bahn-Station ist ein Paradebeispiel für Reizlosigkeit. Die beiden Schienengräben verlaufen entlang der Wände, der Bahnsteig ist in der Mitte. Grauer Steinfußboden, verziert mit Kaugummiflatschen und dem Dreck des Alltags. Wände und Säulen mit emaillierten Kacheln, ehemals weiß, doch signiert mit zahllosen Ölstift-Signaturen. Funktionalität ohne jegliche Zier, weder architektonischer noch informativer Art. Keine historischen Wandbilder und Schaukästen wie in den Stationen Stiftskirche und Nordtor . Keine Bildschirme, die wie am U-Bahnhof Stadttheater Szenen aus aktuellen Bühnenproduktionen zeigen. Nicht einmal eine Beamer-Installation, die Wartende mit einer Dauerschleife aus Nachrichten, Aktienkursen, Wetterbericht und Werbung animiert. Dies hier ist Station Bachstraße – wenngleich in Citynähe, so doch von Stadtplanern nahezu ignoriert; so trostlos, dass sich nicht einmal Obdachlose oder Junkies hier aufhalten, sondern lieber die Umgebung der nächsten Station am Schillerplatz frequentieren.

„Wahrscheinlich wollte der Architekt den Auftrag möglichst rasch vom Reißbrett kriegen“, phantasiert Kai. Und wie so oft, wenn ihm langweilig wird, folgt er den Handlungen seines Kopfkinos, dem nur kurze Impulse genügen, um Geschichten zu formen: „Vielleicht für einen besser bezahlten Auftrag. Oder er durchlebte eine unkreative Phase, weil einfach alles gerade beschissen lief und nichts funktionierte. Oder ihm ist mehrmals die Drecksbahn vor der Nase weggefahren und er dachte sich: Dich verlausten Schienenreiter lasse ich bis zur Rente durch die langweiligste Station der Welt fahren .‘ Kai nimmt einen Schluck. Er entscheidet sich für die letzte Version und erklärt sie zur Wahrheit. ‚Immerhin bleibt hier über Nacht das Licht an. Mir soll’s …‘

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