Oder ein Seil.
Und wenn ich schon mal dabei war, dann könnte ich auch noch an einen Slip appellieren.
Nachdenken, Sam. Nachdenken! Verflixt, ich zitterte! Es ist nur ein Baum. Bei deinen Jobs warst du oft genug auf Bäumen. Du bist bloß geschockt, weil du keine Ahnung hast, wie du hier hochgekommen bist. Also: Mach dich auf den Weg nach unten. Nun ja, mit festen Schuhen wäre es ein Klacks. Zumindest einfacher. Aber ich könnte es schaffen; sofern mich die Äste trugen. Ich musste es schaffen. Die andere Möglichkeit wäre ein am Boden liegender, zerschmetterter Körper. Und da es meiner wäre, war das überhaupt keine Option.
Oh verdammte Scheiße, ich würde mir die Beine aufschürfen.
Die Arme.
Die Hände.
Ah, das würde verflixt wehtun.
Außerdem war es, selbst für Juni, ziemlich frisch. Beinah unangenehm kühl.
Ich holte tief Luft, ging in die Hocke, wobei ich meine Hände langsam am Stamm nach unten gleiten ließ, sah mich nach dem nächsten, einigermaßen fest aussehenden Ast um, hangelte ein Bein hinunter, fasste mit den Händen nach dem Ast, von dem ich nun auch den zweiten Fuß löste und ließ meinen Körper langsam nach unten gleiten. Bis ich etwa zehn Zentimeter über meinem Ziel baumelte. Das Holz knarzte verdächtig, mein Herz schlug bis zum Hals, als ich losließ, mit den Füßen auf dem eine Etage tiefer befindlichen Ast landete und sofort meine Hände um den Stamm warf.
Puh – dem Boden ein Stück näher.
War ich froh, dass niemand unterwegs war und meinen blanken Hintern sowie andere Teile meiner Anatomie bewundern konnte.
Fest biss ich die Zähne zusammen, damit ich nicht anhaltend fluchte und machte weiter. Ast für Ast arbeitete ich mich nach unten. Dabei fand ich mich trotz ängstlich pochendem Herzen und nacktem Hintern sehr behände. Fast schon anmutig. Die Haut riss ich mir trotzdem auf.
Endlich trennten mich nur noch knapp fünf Meter vom Boden, die ich mit einem Sprung überwand.
Wie gut, dass ich zu den movere gehörte. Sonst hätte ich mir sämtliche Knochen gebrochen.
Zischend atmete ich aus, wobei ich versuchte, das zwickende, ziepende Brennen der Schürfwunden zu ignorieren.
Schön und gut; ich war unten. Das hieß nur blöderweise nicht, dass ich daheim war. Schlimmer noch: Von oben hatte ich gedacht, es läge an meiner kurzzeitigen Panik, dass mir die Umgebung unvertraut war. Selbst der Kirchturm war nicht in meinem Gedächtnis gespeichert. Das hatte ich alles dem vorübergehenden Schock zugeordnet.
Tja, leider hatte ich falsch gelegen.
Ich hatte verflucht nochmal keine Ahnung, wo ich mich befand. Jedenfalls nicht in meiner Stadt!
Schnell verteilte ich imaginäre Ohrfeigen, damit ich bloß nicht anfing zu hyperventilieren.
Oder durchzudrehen.
Ich war ein movere , verdammt nochmal! Einbruchsspezialistin! Ein Klacks für mich, ins nächste Kaufhaus zu spazieren und mir ein paar… äh… dezentere Klamotten zu besorgen. Schließlich war das ein Notfall. Jetzt müsste ich nur noch herausfinden, wo sich das nächste Kaufhaus befand.
Normalerweise nahm ich meine Umgebung sehr deutlich wahr. Gut, normalerweise befand ich mich auch nicht in einer wildfremden Stadt vor einem Baum, von dem ich eben erst heruntergeklettert war. Kein Wunder, dass ich nicht hörte, wie sich zwei Personen näherten. „Guten Abend. Können Sie sich ausweisen?“
Mich… ausweisen?
Abrupt schlief mir das Gesicht ein. Mein Herz hörte kurz auf zu klopfen, bevor es mit Anlauf davon stürmen wollte. Langsam schluckend drehte ich mich um. Zwei Uniformierte. Super, das hatte mir gerade noch gefehlt. Der größere der beiden musterte mich mit einem schiefen Lächeln, wobei er einen abgebrochen Vorderzahn offenbarte. Der Blick des kleineren war wesentlich strenger. Ich kam mir wie eine Aussätzige vor.
Eine halbnackte Aussätzige.
„Wohl eher nicht.“ Er schnalzte mit der Zunge, während er meine Verletzungen betrachtete. „Können Sie uns erklären, was Sie mitten in der Nacht in diesem Aufzug planen?“ Schluckend schüttelte ich den Kopf. Es wäre toll, könnte ich auf Kommando in Tränen ausbrechen. Aber ich war keine allzu überzeugende Schauspielerin. Natürlich könnte ich den Typen entkommen, aber wozu? Bei meinem Glück stuften sie mich als gefährlich ein und schossen auf mich.
Ich war vieles, aber nicht kugelfest.
Und ihre Chakren zu beeinflussen bedeutete ohnmächtig zu werden.
„Dann ist es das Beste, wenn Sie uns begleiten.“ Ich nickte langsam und setzte einen Fuß vor den anderen, direkt auf das schicke Polizeifahrzeug zu, das nur ein paar Meter entfernt parkte.
Oh heilige Maria Mutter Gottes in Hotpants!
Hatten die etwa gesehen, wie ich vom Baum geklettert war? Kein Wunder, dass sie mir keine Decke anboten oder mich – tendenziell – für ein Gewaltopfer hielten. Fast hätte ich die beiden um einen Spaten gebeten, um mir ein tiefes Loch zu graben. Gott sei Dank fehlte mir dazu im Moment der nötige Biss. Womöglich hielten die mich dann ernsthaft für bekloppt und lieferten mich in die nächste Heil- und Nervenanstalt ein.
Es war fünf Uhr am Nachmittag, als ich endlich wieder daheim war. Wenigstens hatten sie mir eine Jogginghose gegeben, auch wenn es mich einige Überwindung gekostet hatte, diese anzuziehen. Eine Stunde lang war ich befragt worden, was ich auf dem Baum zu suchen hatte; noch dazu in meiner spärlichen Bekleidung. Ich hatte keine Erklärung liefern können.
Zumindest keine, die sie mir abkauften. Mal ehrlich: Mich wollte ein Dämon einschüchtern, wäre zwar die Wahrheit, würde mir aber keiner der beiden abkaufen. Selbst wenn die Gegenwart von Dämonen schon seit über einem halben Jahrhundert keine Neuigkeit mehr war.
Nachdem sie meine Daten überprüft hatten, wurde ich in ein kleines Zimmer mit einer Pritsche gebracht. Auf der hatte ich bis zum Morgen mehr recht als schlecht geschlafen. Da ich mich weigerte jemanden anzurufen, wurde ich am Nachmittag endlich heim chauffiert. Die Rechnung würde man mir demnächst zuschicken.
Haha.
Die war wohl mein geringstes Problem.
Ich musste dringend etwas unternehmen. Sowas durfte kein zweites Mal passieren. Ich musste meine Familie davon in Kenntnis setzen, dass sie zur Zielscheibe eines Irren werden könnten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von… sagen wir 179 Prozent. Ich hatte nur noch keinen Plan, wie ich das Thema auf den Tisch bringen sollte. Humphrey hatte die Jagd offiziell eröffnet: Indem er mir zeigte, dass er mir überall auflauern und tun konnte, wonach ihm beliebte.
Unter anderem mich mitten in der Nacht halbnackt auf Bäumen abzusetzen.
Er wollte mich nicht sofort töten. Das hatte ich begriffen, da er mich absichtlich in eine Lage gebracht hatte, die an meinem Selbstbewusstsein kratzte. Natürlich hatte er gewusst, dass ich vom Baum herunterkäme. Doch der richtige Ärger begann ja auch erst, als ich unten an gekommen war.
Würde er jedoch meine Mutter oder meinen Vater oder sonst wen aus meiner Familie auf einem Baum absetzen… ich wollte gar nicht daran denken.
Vor Wut kochend ballte ich meine Hände zu Fäusten. Was, wenn er es zuerst auf die Kinder abgesehen hatte? Wie konnte ich sie aus seiner Reichweite bringen? Spline? Ich bezweifelte, dass meine Familie freiwillig dorthin ginge. Aber dort wäre sie sicher – hatte mir der damals noch nicht durchgeknallte Humphrey gesagt.
Einigermaßen sicher!
Abgesehen von ein paar Gebäuden, die sie als Happen zwischendurch ansahen. Doch sicher vor Humphrey. Würden sie mir überhaupt glauben? Viel wichtiger waren andere Fragen. Wäre Humphrey wirklich nicht in der Lage, ihnen dahin zu folgen? Wurden – im Gegensatz zu mir – seine Energie und Magie dort gedämpft? Gott, ich musste auch Alan informieren. Und der würde keinen Fuß nach Spline setzen.
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