1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Gleichzeitig hatte ich das Gefühl im Tempel ausgenutzt worden zu sein.
Meine buddhistischen Freunde hatten mich immer darauf hingewiesen, dass ich Grenzen zu setzen hätte, und dass neben dem Gebet und der Meditation gerade der Mensch und die Familie ein wichtiges Gut darstelle und nicht vernachlässigt werden dürfe. Sie hatten es verstanden Grenzen zu ziehen und die Zeit einzuteilen gelernt, so dass bei ihnen niemand und nichts zu kurz kam. Ihnen war an der Gesamtheit gelegen.
Bei den Schriftgelehrten nun hatte ich feststellen müssen, dass sie nur die Auslegung der Schriften im Auge hatten. Für sie existierte nichts anderes als die Schrift. Sie ließen sich bedienen und lebten wie in einem goldenen Käfig.
Sie hatten es interessant gefunden was ich zu sagen hatte, hatten meine Deutungen und Auslegungen zwar skeptisch doch auch anerkennend zur Kenntnis genommen.
Aber sie hatten mich benutzt, benutzt um Anregungen zu sammeln und hatten dabei meine zwischenmenschlichen Verpflichtungen vollkommen außer Acht gelassen.
Ihnen wäre niemals in den Sinn gekommen mich auf meine Familie und meine Pflichten ihr gegenüber aufmerksam zu machen. Für sie zählte nur die Schrift.
Sie saßen in ihrem „geistigen Elfenbeinturm“ und glaubten, dass alles sich ihnen unter- und nachzuordnen hätte. Der Mensch und das alltägliche Leben außerhalb der Tempelmauern war zweitrangig oder spielte gar keine Rolle für sie.
Ich erkannte, dass ein so enges Fixiert sein auf die Schrift und das Gesetz nicht gut sein konnte.
Ich war froh wieder bei meiner Familie zu sein. Meine beiden kleinsten Geschwister Schimon und Rahel begrüßten mich mit stürmischen Umarmungen. Die ganzen folgenden Nächte lagen sie, ihre Ärmchen eng um mich geschlungen, an mich gedrückt und träumten, wie ich, von unserem neuen Zuhause, von dem Mutter, Jakobus oder ich ihnen immer wieder erzählen mussten.
Dann kam der Tag, an dem wir Nazareth erreichten.
Endlich waren wir da.
Mirjam, Jehosaf, Jeschua, Jakobus, Esther, Joses, Judas, Schimon und Rahel waren wieder Zuhause angekommen.
Der Empfang hätte nach meinem Geschmack jedoch herzlicher ausfallen können, schließlich wohnte fast unsere gesamte Verwandtschaft in Nazareth. Außerdem waren Nachrichten hin und her gegangen und so wusste man in Nazareth bereits Tage oder Wochen vor unserer Ankunft um unsere Situation.
Doch ich kann den Schrecken verstehen den sie empfunden haben müssen als sie Jehosaf, den sie mit siebzehn Jahren als stolzen und kräftigen Burschen von Zuhause weggehen sehen hatten, nun plötzlich als dreißigjährigen sich oft kindisch verhaltenden Mann wieder sahen.
Außerdem lag immer noch ein latent vorhandener Vorwurf in der Luft, der auf meine außereheliche Zeugung zurückging.
Im Großen und Ganzen wurden wir jedoch freundlich empfangen.
Ich bemerkte die Befangenheit der älteren Gemeindemitglieder meiner Mutter gegenüber.
Sie wussten nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten, wo Jehosaf doch für alle so offensichtlich unfähig geworden war seine Familie zu versorgen.
Es entsprach in keiner Weise ihrer Tradition, dass Frauen so selbstständig und selbstbewusst auftraten, wie Mirjam es nun tat.
Das Leben in Alexandria war freier gewesen und Mirjam hatte sich an dieses Leben gewöhnt.
Gerade für sie war es nun schwer sich wieder zurückzustellen und unterzuordnen.
Aber es blieb ihr nichts anderes übrig wollte sie in Nazareth zurechtkommen und in die Dorfgemeinschaft integriert werden.
Für uns Kinder war es am einfachsten.
Kinder schließen schnell Kontakte, sind noch nicht so in Konventionen gefangen.
Und so tobten besonders meine jüngeren Geschwister bald mit den anderen Kindern des Dorfes durch die Felder.
Mir wurde nachgesagt schon sehr erwachsen für mein Alter zu sein, und so trat ich dann in die Fußstapfen meines Vaters und verdingte mich als Tékton.
In den folgenden Jahren sollte ich der Ernährer der Familie sein.
Ich habe diese Zeit nie bereut. Sie hat mich stark gemacht für das, was noch auf mich zukommen sollte.
Gleichzeitig habe ich diese Zeit genutzt mich intensiv mit der Torá auseinander zusetzen.
Meine buddhistischen Freunde und Gesprächspartner fehlten mir jedoch sehr, besonders mein Lehrer Sedûn, der mir immer neue Anregungen und Betrachtungsperspektiven eröffnet hatte.
Sie waren es, die ich am meisten vermisste. Und ich habe versucht, ihr Andenken so gut es mir möglich war zu bewahren.
Das Ritual, an jedem Morgen meine Gebete und Meditationsübungen durchzuführen behielt ich ehrfürchtig bei. Es war zu meinem inneren Schatz geworden, was innerhalb des Dorfes verwunderte und irritierte Reaktionen auslöste. Man verstand nicht, was ich da machte und hielt mich für sonderbar. Doch man entschuldigte dies mit meinem zu frühen Erwachsenwerden, bedingt durch den tragischen Unfall meines Vaters.
So wurde ich in Nazareth ungewollt zu einem Außenseiter.
Meine jüngeren Geschwister hatten da weniger Schwierigkeiten sich in die neue Gemeinde einzugliedern. Ihnen fehlte die multikulturelle Umgebung Alexandrias nicht so sehr wie mir.
Und Mutter veränderte sich im Laufe der Jahre immer mehr und ordnete sich in das jüdische Umfeld ein.
*
Wir lebten in Galiläa, und hier war ein hellenistischer Einfluss bedingt durch die Herrschaft Herodes Antipas, eines Sohnes Herodes des Großen, unverkennbar.
Galiläa zählte damals zu den Randgebieten der jüdischen Einflusssphäre und es lag Herodes sehr daran Galiläa zu hellenisieren. Aus diesem Grund ließ er Städte wie Sepphoris, die nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt lag, oder seine Regierungshauptstadt Tiberias 16am See Genezareth erbauen.
Aber die griechische „Vielgötterei“ stieß bei uns Juden auf strikte Ablehnung und auf massiven Widerstand. Das drängen Herodes führte nur dazu dass wir unseren Glauben noch intensiver bewahrten und lebten.
Es war fast so wie im Exil in Alexandria. Der Glaube unserer jüdischen Nachbarn und Verwandten war strenger und inniger als der im Kernland Judäa, wo sich der Glaube nicht so gegen Fremdeinflüsse behaupten musste.
Hier in Galiläa sollte ich auch erfahren was es heißt arm und ohne Hoffnung zu sein.
Was uns nicht von den reichen Großgrundbesitzern weggenommen wurde, für die meine Landsleute als abhängige Pächter oder Kleinbauern arbeiten mussten, wurde uns durch die Zölle und durch die Kopfsteuer des Kaisers in Rom und auch durch den Zehnten und die Tempelsteuer weggenommen.
Wir waren Handwerker, angesehene Téktone, uns ging es dabei noch verhältnismäßig gut.
Doch mir blieb die bedauernswerte Armut der Kleinbauern, Fischer, Weinbauern, kleinen Handwerker und nicht zuletzt der Tagelöhner und Bettler nicht verborgen. Ich empfand Mitleid mit ihnen und gab ihnen von dem was wir erübrigen konnten.
Ändern konnten wir unsere Situation und die Verhältnisse jedoch nicht.
Auch wir gehörten zur Unterschicht.
Wir waren die „Am ha arez“, die unterdrückten und ausgebeuteten kleinen Leute vom Land, die sogar noch von den Pharisäern aufgrund der geringeren Torá Kenntnisse religiös verachtet wurden, ganz zu schweigen von den Sadduzäern in Jerusalem, die unsere erbarmungswürdige Existenz erst gar nicht zur Kenntnis nehmen wollten.
Die Zeloten waren eine der wenigen Gruppen die, besonders unter ihrem Anführer ‚Judas der Galiläer’ versuchten etwas zu verändern.
Aber ihr Weg war der der Gewalt.
Sie hassten die Römer und sie empfanden es als besonders schmerzlich dem römischen Kaiser die Kopfsteuer zahlen zu müssen.
In ihren Augen war die Entrichtung der Kopfsteuer ein Götzendienst.
Deshalb versuchten sie die Römer mittels Gewalt aus unserem Land zu vertreiben, was bei der militärischen Übermacht der Römer ein schier unmögliches Unterfangen darstellte.
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