1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Vielleicht sollte man dieses Zerreißen folgendermaßen interpretieren:
Ein in den Boden geworfener Same muss erst „zerreißen“, also aufspringen, damit sich aus ihm der Keim des Neuen und Lebendigen entwickeln kann.
So verstehe ich seither auch unsere Trauer. Aus ihr kann sich etwas Neues entwickeln, das die Erinnerung an den Verstorbenen in sich trägt und aus der wir Zurückbleibenden unsere Kraft für das Weiterleben ohne den geliebten Verstorbenen schöpfen können.
Samuel suchte einen Weg aus der Schlucht, während ich meinen Vater im Arm hielt und ihn wie ein Kind in meinem Schoß wiegte. Ohne dass ich es selber gemerkt hatte summte ich Lieder die mein Vater mir in meiner Kindheit vorgesungen hatte.
Die Rollen hatten sich endgültig vertauscht.
Nun war ich der Mann und er das in meinem Schoß ruhende Kind.
Ein Gefühl des vollkommenen Friedens umfing mich.
Samuel näherte sich uns vorsichtig.
Wie er mir später einmal erzählte, hatte er uns schon eine ganze Weile zugesehen, hatte aber diesen intimen und intensiven Moment des Zusammenseins von mir und meinem Vater nicht stören wollen.
Er sagte mir: „Jesus, du hattest den gleichen ruhigen und strahlend zufriedenen Gesichtsausdruck wie dein Vater als ihr beide dort ‚saßt’. Eine solch tiefe und innige Verbundenheit eines Lebenden mit einem Toten habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen“.
Ich wusste damals keine Antwort darauf, doch habe ich seine Worte in meinem Gedächtnis bewahrt.
Zum ersten Mal spürte ich, dass es gut und wichtig ist den Sterbenden oder Toten auf seinem Weg zu begleiten. Man muss davor keine Angst haben, im Gegenteil. In dem Moment, wo ich mich auf die Vorgänge des Sterbens und Todes einlasse, eröffnet sich eine vollkommen neue Perspektive. Meine eigene Erfahrungswelt wird bereichert und der Tod verliert seine Schatten.
„Ich habe einen Weg gefunden, wie wir deinen Vater hier herausbringen können“.
Ich nickte still, wäre jedoch am liebsten für immer so sitzen geblieben.
Samuel half mir meinen Vater zu Schultern. Jetzt wirkte er, dort auf meinen Schultern, wie ein Opferlamm das zum Altar getragen wird. Er war so leicht. Ich spürte seinen Körper kaum.
Samuel ging voraus und zeigte mir den Weg. Einige Male hielt er an um mich zu fragen ob wir nicht lieber anhalten sollten um eine Pause zu machen. Doch ich winkte jedes Mal ab. Als wir unser Dorf erreichten wurde es bereits wieder hell.
*
Ich sah es meiner Mutter an, dass sie die ganze Nacht voll Angst gewesen war und gewacht hatte.
Mit jeder verstrichenen Stunde war ihre Hoffnung gesunken dass wir Jehosaf lebend zurückbringen würden.
Jetzt, als sie uns ankommen sah, lief sie auf uns zu.
Ihr Gesicht klarte auf, doch als sie sich uns auf etwa 10 Meter genähert hatte, blieb sie abrupt stehen. In einem Moment erlosch alles Leben in ihren Augen. Sie hatte erkannt, dass ich einen leblosen Vater auf den Schultern trug.
Obwohl Vater ihr in den letzten Jahren kein Mann mehr hatte sein können, liebte Mirjam unseren Vater immer noch sehr. Sicher, er war in gewisser Weise zu einer Art „Last“ geworden, die für uns alle den Alltag gänzlich verändert hatte; doch erträgt wahre Liebe nicht so manches Unglück?
Die Endgültigkeit des Todes überwältigte meine Mutter in diesem Moment.
Sie empfand beim Anblick ihres toten Mannes nicht den Frieden den ich empfunden hatte als wir ihn dort in der Schlucht fanden; und es ist mir auch später nie wirklich gelungen ihr begreiflich zu machen, dass der Tod kein böser Schrecken ist.
Genauso abrupt wie sie stehen geblieben war, drehte sie sich um und lief zum Haus.
Ich fühlte ihren ohnmächtigen Schmerz und hörte ihr Klagen und Weinen, und ich erkannte augenblicklich, dass in diesem Moment eine große Distanz zwischen ihrer und meiner Trauer lag.
Vorsichtig legte ich Jehosaf in den Sand vor unserem Haus. Der Abdruck seines Gürtels zeichnete sich auf meiner Schulter ab. Ich wünschte mir in diesem Moment, er möge für immer dort bleiben, als „Mal“, als sichtbares Zeichen der Verbundenheit zwischen Vater und mir. Gleichzeitig aber wusste ich auch, dass es dieses sichtbaren Zeichens nicht bedurfte.
Samuel und ich standen in der aufgehenden Sonne des neuen Tages vor meinem Vater.
Langsam kamen immer mehr Dorfbewohner zu unserem Haus und umringten uns.
Die Frauen hatten sich zu meiner Mutter gesellt und stimmten mit ihr in die monotonen aber irgendwie auch beruhigenden Klagerufe ein.
Der Rabbi kam und segnete meinen Vater. Dann wies er einige Männer des Dorfes an auf dem Begräbnishügel ein Loch für seinen Leichnam auszuheben.
Am Abend dieses Tages, in meinem sechzehnten Lebensjahr, wurde mein Vater also beigesetzt. In ein Tuch eingewickelt hatten wir ihn in das ausgehobene Erdloch gelegt. Meine Schwestern Esther und Rahel hatten wunderschöne wilde Blumen gepflückt und sie auf den eingehüllten Leichnam meines Vaters gestreut. Die Gemeinschaft des Dorfes umfing uns und ich spürte wieder wie gut es tat, in einer Gemeinschaft aufgefangen und von vertrauten Menschen umgeben zu sein, die alles mit einem teilten, Freude ebenso wie Schmerz und Leid.
Meine Mutter weinte die ganze Zeit über und es sollte noch einige Wochen dauern, bevor sie sich selbst wieder gefunden hatte.
Erstaunlicherweise trug die Routine des Alltags sehr dazu bei, dass sich die Trauer nicht wie ein bleischwerer, dunkler Schatten über uns alle ausbreitete.
Das Leben – unser Leben – ging weiter.
Im Grunde hatte sich in unserem Alltagsleben auch nicht so sehr viel verändert.
Seitdem wir nach Nazareth zurückgekehrt waren, war ich derjenige gewesen der für die Arbeit und die Ernährung unserer Familie zuständig war. Die Belastung der Verantwortung die ich empfand, seit mein Vater nicht mehr unter uns weilte, war zwar größer geworden, doch hatte sich grundsätzlich nichts geändert.
In meiner Freizeit spielte ich mit meinen Geschwistern oder zog mich in aller Stille zurück.
Dann durchstreifte ich allein die Umgebung unseres Dorfes und fand mich dabei oft in der Schlucht wieder, in der wir meinen Vater gefunden hatten.
Dieser Ort hat für mich seither etwas Magisches, etwas Spirituelles, Heiliges. Dort betete und meditierte ich und fühlte mich dabei von vollkommenem Frieden umfangen. Dort war ich meinem Vater nahe. Dort führte ich im Geiste Zwiegespräche mit ihm, fragte ihn um Rat und bat ihn um Hilfe. Und immer erhielt ich eine Antwort oder erfuhr auf irgendeine Weise Hilfe, indem mir zum Beispiel plötzlich etwas klar wurde oder ich etwas erkannte, das mir zuvor bei aller Nachdenklichkeit nicht in den Sinn gekommen war.
Auf diese Weise verbrachte ich immer häufiger meine Zeit in dieser einsamen Schlucht wobei die Kraft, die ich von diesem Ort bezog, von Tag zu Tag größer wurde.
Gleichzeitig wuchs in mir aber auch etwas, dass ich damals noch nicht beschreiben konnte. Es war eine Art Sehnsucht die nichts mit meinem Leben in Nazareth zu tun hatte. Ich verspürte ein Brennen in mir – einen Durst nach Wissen und Verstehen.
*
Einige Zeit nachdem wir meinen Vater begraben hatten, war der Rabbiner unserer Gemeinde an mich herangetreten um mir zu erklären, dass ich mich reinigen lassen müsse.
Ich sah ihn unverständlich an, denn ich begriff nicht, was er damit meinte.
Unbeholfen trat er von einem Bein auf das andere und erklärte dann, der Umstand dass ich meinen toten Vater so lange auf den Schultern getragen hätte, in diesem Zustand des Todes also mit ihm in Berührung gekommen war, hätte mich unrein gemacht und deshalb müsse ich mich eines Reinigungsrituals unterziehen.
Ungläubig sah ich ihn daraufhin an und obwohl mir der Brauch des Reinigens nach der Berührung mit Unreinem durchaus bekannt war fragte ich dennoch ganz direkt: „Warum?“
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