„Der Tote und sein toter Körper“, sagte er darauf, „sind unrein und vergiften uns und unsere Seele. Deshalb muss jeder der in Kontakt mit Toten gekommen ist gereinigt werden. So will es das Gesetz.“
Ich konnte nicht glauben was ich da hörte.
Der Kontakt zu Toten sollte unrein machen?
Mir hatte dieser Kontakt das Herz und die Augen geöffnet!
Mich hatte das Zusammensein mit meinem toten Vater gelehrt mit dem Herzen zu sehen!
Mir hatte dieses Zusammensein neue Horizonte erschlossen und nun sollte all dies unrein und verwerflich sein!?
Ich wusste schon dass mich einige der Dorfbewohner für komisch und befremdlich hielten; sie konnten nicht verstehen was ich tat wenn ich betete und meditierte. Und seit dem Tod meines Vaters war diese Fremdheit eher größer geworden. Doch auch auf die Gefahr hin endgültig zum Sonderling abgestempelt zu werden, weigerte ich mich den Anweisungen des Rabbiners zu folgen und mich einem Reinigungsritual zu unterziehen.
Meine Weigerung machte in unserer Gemeinde schnell die Runde.
Nun schlug das Unverständnis in Verachtung und latent vorhandenen Hass um.
Und, ich muss es leider sagen, in dieser Situation war mir meine Familie keine Hilfe. . .
Meine Geschwister hatten nie so wie ich das multikulturelle Leben in Alexandria gelebt. Sie waren dort ganz und gar in der großen jüdischen Gemeinschaft aufgegangen und konnten sich von daher hier in Nazareth viel leichter in die Gemeinschaft integrieren.
So entfremdete sich mir also mit der Zeit auch meine Familie.
Ich spürte wie Mutter unter dieser Entwicklung litt und ich hätte mich ihr gerne erklärt. Doch sie hatte sich in den vier Jahren, in denen wir nun bereits in Nazareth lebten, so in das dörfliche Leben integriert, dass sie kein offenes Ohr mehr für mich hatte. Sie wollte um keinen Preis auffallen und erwartete dies wohl auch von ihren Kindern.
Dem konnte ich jedoch nicht nachkommen, würde ich mich nicht selbst und meine Überzeugungen verraten.
Zwar nahm ich an den Unterweisungen des Rabbis teil und studierte die alten Schriften, doch konnte ich einfach nicht kritiklos hinnehmen was dort geschrieben stand.
Mein Geist war die Freiheit des Denkens gewöhnt und konnte und wollte sich nicht in die formalen Regeln der Schrift, ihrer determinierten Auslegung und ihren gesetzlichen Vorschriften eingrenzen lassen.
So begann man mich schließlich der Besserwisserei und des Frevels gegen Gott zu beschuldigen. Dabei wollte ich doch nur verstehen und begreifen und das Geschriebene ernsthaft durchdringen.
Die Situation wurde von Monat zu Monat angespannter.
Ich versuchte meinen Weg zu gehen, versuchte dem Rabbi klar zu machen, worum es mir ging.
Doch die latente Bedrohung unseres jüdischen Glaubens durch die hellenistischen Vorlieben unseres „Landesvaters“ Herodes Antipas machten es scheinbar unmöglich Toleranz Andersdenkenden gegenüber zu zeigen.
Ich wurde immer einsamer.
Immer öfter zog ich mich zurück und betete und meditiere in der „Schlucht meines Vaters“.
Als ich 18 Jahre alt geworden war – Jakobus war inzwischen auch in den Berufsstand des Téktons eingetreten – fasste ich schließlich den Entschluss meine Familie zu verlassen.
Von einigen Wanderarbeitern hatte ich gehört, dass in Kapernaum am See Genezareth ein guter Tékton immer gern gesehen sei.
Also entschloss ich mich für eine Weile dort hin zu ziehen. Selbstverständlich würde ich auch weiterhin finanziell für meine Familie sorgen, doch in Nazareth leben konnte und wollte ich nicht länger und auch meine Familie war mir kein Halt mehr.
So waren wahrscheinlich letztlich alle Beteiligten erleichtert als ich meine Habseligkeiten gepackt hatte und aufbruchbereit vor unserem Haus stand.
Mutter segnete mich, doch ich glaube auch sie bedauerte es nicht, dass ich nun fort ging.
Wahrscheinlich hoffte sie, dass nun endlich Ruhe in ihr Leben einkehren würde.
Meiner Unterstützung der Familie hatte sie sich versichert, denn ich versprach ihr jeden Monat Geld nach Hause zu schicken oder selber zu bringen.
*
Kapernaum am See Genezareth war also nun mein Ziel.
Ich hatte keine Eile und nahm mir zwei Tage Zeit für diese Reise.
Ich war froh der Enge unseres Dorfes zu entfliehen und freute mich darauf wieder am Wasser zu leben.
Damals, in Alexandria, hatte ich im Hafen oft gemeinsam mit Vater von der weiten Welt geträumt.
Dann hatten Vater und ich in Gedanken die Schiffe bestiegen und gemeinsam die Welt erobert.
Nun würde ich an einem See leben und mir eine neue Welt erobern, ohne den Schutz und die Geborgenheit der Familie.
Aber ehrlicherweise muss ich mir eingestehen, dass ich diese Geborgenheit in der Familie schon seit einiger Zeit vermisste.
Auch wenn ich seit meinem 12ten Lebensjahr der Ernährer unserer Familie gewesen war, stand ich doch erst jetzt – mit 18 Jahren – alleine da.
Nun war ich auf mich selbst angewiesen; doch meine Bereitschaft, mich alleine durchzuschlagen, war groß.
Dem Vorschlag meiner Mutter, entfernte Verwandte in Kapernaum zu benachrichtigen und sie um eine Unterkunft zu bitten, lehnte ich ab.
Ich wollte es alleine schaffen, mir beweisen dass ich fähig war alleine klar zu kommen.
In all den Jahren in Kapernaum habe ich jedoch nie ganz das Gefühl ablegen können, dass Mutter ihre dort lebenden Verwandten doch informiert hatte ein Auge auf mich zu werfen.
*
Kapernaum war nicht Alexandria und der See Genezareth nicht das Mittelmeer, doch ich fühlte mich dort frei. Die Enge unseres Dorfes lag hinter mir. Ich war jung, dynamisch und voller Tatendrang.
10 Jahre sollte ich in Kapernaum leben und arbeiten und die wunderschöne Landschaft am See erkunden ehe ich wieder auf Wanderschaft und auf die Suche nach Gott gehen sollte. Die Landschaft ließ mich niemals wieder los. Dort habe ich meine schönste und wichtigste Lebenszeit verbracht, dort lebten meine ersten Jünger, dort sollte meine Popularität am größten sein. Dort befand sich später das Zentrum meiner religiösen Tätigkeit.
Aber bis dahin waren es noch einige Jahre in denen ich still und unscheinbar mein Leben lebte.
Am Schabbat besuchte ich regelmäßig die Synagoge.
Ich setzte mich mit den Schriften auseinander, studierte die Propheten. Ich betete und meditierte und ich genoss es in der körperlichen Arbeit des Tages die Bestätigung zu finden ein sinnvolles Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Auch dies war damals in Nazareth in Frage gestellt gewesen.
Dort war der Sinn meines Lebens in Frage gestellt worden, solange ich nicht bereit gewesen war mich ein- und unterzuordnen unter die Regeln der Dorfgemeinschaft.
Hier in Kapernaum war ich frei von solchen Zwängen und Einengungen.
Ich blühte auf und das sowohl körperlich als auch geistig.
Mir erschloss sich die Welt neu.
Irgendwann in dieser Zeit war es dann soweit, dass ich ohne schlechtes Gewissen feststellen konnte dass meine Familie mich nicht mehr brauchte.
Meine Geschwister waren fast alle verheiratet, hatten selber schon eigene Kinder und Mutter lebte bei Jakobus und seiner Familie.
Nun konnte ich verwirklichen, was ich im Stillen schon lange geplant hatte.
Ich kündigte meine Arbeitsstelle und begann zu wandern.
Nach 16 Jahren im Land der Väter, der Stämme Israels, machte ich mich auf den Weg dieses Land zu erkunden und zu erleben.
Es sollte eine Wanderung zu den Wurzeln unseres Volkes und unserer Religion werden, doch es wurde eine Wanderung zu mir selbst.
Und meine Erkenntnisse drängten mich dann dazu die Stimme zu erheben und die frohe Botschaft zu verkündigen: „Gott ist nah, sein Kommen steht kurz bevor“.
Mit einwenig Geld in der Tasche, alle anderen Besitztümer hatte ich verkauft und den Erlös, sowie fast meine gesamte Barschaft an Mirjam gesandt, machte ich mich auf den Weg.
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