1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 Jeder noch so kleine Erfolg der Zeloten wurde von den Römern grausam gerächt.
Wurden römische Soldaten von Zeloten getötet, so wüteten die römischen Söldner anschließend in unseren Dörfern, vergewaltigten Frauen und Mädchen und nahmen Männer fest, um sie anschließend vor den Augen ihrer Angehörigen grausam zu kreuzigen.
Ja, Kreuzigungen gehörten zu meinen Alltagserfahrungen in der Zeit meiner Jugend und zogen sich letztlich als ständiger Begleiter durch mein ganzes Leben, bis hin zu meiner eigenen Kreuzigung durch die Römer.
In dieser angespannten Atmosphäre also sollten wir nun leben.
*
Anfangs glaubte ich dass mich die Enge des hier gelebten Glaubens einschnüren würde und ich fürchtete, die zarte Knospe meines eigenen Verständnisses von Gott und den menschlichen Beziehungen auf Erden würde ersticken.
Doch der Same des Glaubens und des Mitleids, so wie ihn meine buddhistischen Freunde mich gelehrt hatten, war in mir bereits gekeimt.
Meine Sorge war rückblickend betrachtet unbegründet.
Indem ich meine Rituale allmorgendlich zu beten und zu meditieren beibehielt, gab ich diesem in mir gekeimten Samen die Nahrung die er zum Gedeihen benötigte.
An manchen Tagen war es schwer für mich meine Gewohnheiten einzuhalten.
Hier in Nazareth war ich zum Mann im Haus geworden.
Mein Vater, Jehosaf, hatte zwar immer wieder klare Momente in denen er sich unserer und seiner selbst erinnerte, in denen man mit ihm sprechen konnte, so wie es früher möglich gewesen war, doch die meiste Zeit lebte er in seiner eigenen Welt. In unseren Augen war er dann wie ein Kind.
Wie er sich selbst erlebt hat, haben wir nie erfahren können, denn für ihn gab es nur die eine oder die andere Welt. In wachen Momenten zumindest erinnerte er sich nicht an diesen – ich will es einmal Dämmerzustand nennen – in dem er sich vorwiegend befand.
Jehosaf machte jedoch trotz seines Zustandes einen recht glücklichen und zufriedenen Eindruck auf uns alle.
Für Mirjam war es eine harte Zeit.
Jakobus, Esther und ich halfen ihr so gut es uns möglich war.
Die restlichen Geschwister waren noch zu jung. Für sie war Vater ein toller Spielkamerad, ein Riese mit einer kindlichen Seele, mehr nicht.
Da ich als Ältester und als derjenige, der bereits in Alexandria mit meinem Vater zusammen gearbeitet hatte, das Handwerk meines Vaters am besten beherrschte, nahm ein Onkel meiner Mutter mich auf, bei dem ich die Gelegenheit bekam meine Fertigkeiten und Fähigkeiten zu vervollkommnen.
Und so wurde aus mir im Laufe der Jahre ein guter und erfahrener Tékton.
Solange ich bei meiner Familie lebte, bzw. finanziell für sie sorgte, habe ich in diesem Beruf gearbeitet. Ich habe mit meinem Onkel in Sepphoris gearbeitet, jener Stadt, die Herodes Antipas mit Genehmigung der Römer wieder aufbauen ließ nachdem sie von Varus 17, einem römischen Feldherren, komplett zerstört worden war. Und so schufen wir zusammen mit all den Arbeitern die „Zierde Galiläas“. Wir errichteten Häuser, Synagogen, Tempel, Schulen, Paläste, Banken, legten Straßen und Marktplätze an und erbauten ein Theater das 5000 Sitzplätze besaß und zu den schönsten Bauwerken unseres Landes zählte.
Auch in der Zeit in der ich in Sepphoris arbeitete besuchte ich wann immer es mir möglich war die Theaterveranstaltungen. Doch waren sie nur ein schwacher Abglanz dessen, was ich in Alexandria hatte sehen und erleben dürfen. So wurden hier in Sepphoris vorwiegend unterhaltende Stücke aufgeführt. Komödien des Menander, selten Stücke von Aischylos oder Sophokles. Das Volk liebte die „Pantomimos“, Tänzer die alleine oder in Gruppen Stücke mimisch darstellten, während ein Chor oder einzelne Sänger dazu den Text darboten. Aber viele der aufgeführten Stücke dienten nur noch der Volksbelustigung.
*
Irgendwann in dieser Zeit, ich war gerade für einige Tage in Nazareth mit Arbeiten beschäftigt, bemerkte ich eines frühen Morgens als ich meine Gebete und Meditationen gerade beendet hatte, dass mein Vater verschwunden war.
Das gesamte Dorf beteiligte sich an der Suche nach ihm.
Er war ein Mann mit einer Kinderseele und alle hatten ihn inzwischen lieb gewonnen so wie er jetzt war. Aber manchmal hörte ich sie auch noch tuscheln wie so ein starker und kräftiger Mann so zart und zerbrechlich wirken könne.
Nun suchten alle nach ihm.
Die Rufe: „Jehosaf, Jehosaf“ schalten durch den Ort und über die Felder.
Es wurde Abend aber wir hatten ihn immer noch nicht gefunden.
Die meisten Dorfbewohner hatten schon aufgegeben und waren inzwischen nach Hause zurückgekehrt. Samuel, ein alter Mann der unser Dorfhirte war, saß neben mir und gemeinsam überlegten wir, wo mein Vater stecken könnte.
Samuel murmelte etwas vor sich hin, das ich anfangs nicht verstand. Ich weiß nicht ob er sich mit seinen Worten nur Mut vor der nahenden Dunkelheit machen wollte oder ob es seine tiefe Überzeugung war, auf jeden Fall murmelte er die ganze Zeit etwas wie „…ein guter Hirte lässt seine Schafe nicht im Stich und verirrt sich eines, so sucht er es, bis er es gefunden hat…“ Schließlich wiederholte er diesen Satz immer wieder und er prägte sich in mein Gedächtnis ein.
Etwas später, die Dämmerung war bereits weit vorgerückt, machten wir uns erneut auf die Suche.
Vielleicht hatte dieser Satz, den Samuel ständig vor sich hin gemurmelt hatte ihm beim Nachdenken geholfen, ich weiß es nicht, jedenfalls war Samuel ganz zielstrebig aufgestanden und in Richtung der Felsen gegangen. Ich folgte ihm, in Gedanken immer noch mit seinen Worten beschäftigt. Wir durchkämmten die Felsen und spähten mit unseren Fackeln jeden Spalt und jede Ritze ab. Es wurde immer dunkler und ich war mir sicher, dass mein Vater hier nicht sein würde. Er war in all den Jahren nie hierher gewandert, wir waren nie mit ihm hier gewesen.
Plötzlich blieb Samuel stehen. Vor ihm tat sich ein Abgrund auf, nicht tief, aber die Felsen fielen hier fast senkrecht ab.
Und da lag er, mein Vater. Sein Gesicht lag im Moos welches die Steine bedeckte. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch da und sah so friedlich aus.
Ich rief ihn an, denn ich glaubte er würde schlafen, so entspannt lag er da.
Samuel half mir hinab zu steigen und folgte mir dann in respektvollem Abstand.
Was ich anfangs nicht erkennen wollte, hatte er sofort begriffen.
Mein Vater schlief nicht, – er war bereits tot.
Vorsichtig berührte ich meinen Vater an der Schulter, doch er rührte sich nicht. Ich drehte ihn zu mir um und sah in sein Gesicht, es wirkte entspannt. Seine Augen strahlten jedoch so, als sehe er etwas unbeschreiblich Schönes.
Samuel stand dicht hinter mir und flüsterte: „Jetzt hat er seinen ewigen Frieden gefunden“.
Ich drehte mich zu Samuel um und sah ihn an. Tränen liefen mir übers Gesicht.
Ich weinte um meinen Vater, doch gleichzeitig, ich kann es nicht anders beschreiben, erfüllte mich auch ein Gefühl des inneren Friedens. Ich spürte in diesem Moment zum ersten Mal, dass der Tod wohl keine Bedrohung darstellt, so wie ich es bisher immer gesehen hatte. Er ist wohl mehr ein Übergang zu etwas, was uns Lebenden verborgen bleibt.
In diesem Moment, den Vater im Arm haltend, geschah etwas in mir, das meine Angst vor dem Tod für immer besiegte.
Ich erkannte dass der Tod nichts Grausames und Unreines war, so wie die Priester es uns lehrten.
Sicher, für uns Zurückbleibenden ist es hart und schmerzlich. Ein vertrauter geliebter Mensch ist für uns auf immer verloren. Wir können uns nicht mehr an seinen Bewegungen, an seinen Worten und seinem Dasein erfreuen.
Und ich begriff, dass Trauer etwas ausschließlich für die Überlebenden ist. Der Tote selber empfindet keine Trauer.
In unserer Religion ist es Brauch seinen Schmerz zum Ausdruck zu bringen, indem man sich das Hemd über dem Herzen zerreißt, und ich glaube, dass diese symbolische Geste sehr prägnant zum Ausdruck bringt wie der trauernde Angehörige oder Freund sich fühlt. Das Herz scheint zu zerreißen über den Verlust des geliebten Menschen.
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