Da sie unserem Zuhause am nächsten wohnten, waren wir auch die ersten, die wieder dort ankamen.
Eine wehklagende Gruppe von Frauen hatte sich mittlerweile um meine Mutter gescharrt und teilte mit ihr die Angst um meinen Vater.
Ich spürte das diese Frauengemeinschaft meiner Mutter gut tat, dass es ihr half gemeinsam zu fühlen, den Schmerz und die Angst zu teilen und ich begriff in diesem Moment wie wichtig es ist, wenn am Schicksal eines Anderen Anteil genommen wird.
So also wurde mir in diesem Moment klar, was meine buddhistischen Freunde unter anderem mit dem Mitleid allen Geschöpfen gegenüber meinten.
Der älteste Mönch Namens Sedûn betastete meinen bewusstlosen Vater vorsichtig und sehr konzentriert. Manchmal murmelte er kopfnickend, dann wieder verstummte er in tiefer Konzentration.
Inzwischen war auch Jakobus mit dem Arzt zurück, der nun erstaunt und bewundernd den Bewegungen und Handlungen Sedûns zusah.
Als Sedûn fertig war machte sich der Arzt daran meinen Vater zu untersuchen.
Im Nachhinein erscheint es mir seltsam dass damals alle ganz selbstverständlich akzeptierten, dass Sedûn, der nicht Arzt war, meinen Vater zuerst untersuchte und dann erst der Arzt seine Untersuchungen vornahm. Niemand rief: „Nun lasst endlich den Arzt ran“. Sedûn strahlte eine solche Ruhe und Sicherheit aus, dass sich ihm ganz selbstverständlich jeder nachordnete.
Nachdem schließlich auch der Arzt meinen Vater sehr gründlich untersucht hatte, beriet er sich sehr lange mit Sedûn. Der inzwischen ebenfalls anwesende Rabbi betete für meinen Vater.
Dann endlich wandte sich der Arzt an meine Mutter und erklärte ihr was Sedûn und er festgestellt hatten.
Mein Vater hatte sich bei seinem Sturz vom Dach die Schulter und das linke Bein gebrochen, Verletzungen, die wieder heilen würden. Gott sei Dank waren aber, so wie es schien, keine inneren Verletzungen entstanden. Der Brustkorb war geprellt, aber keine Rippe gebrochen.
Was aber Anlass zur Sorge gab, war diese tiefe Bewusstlosigkeit meines Vaters. Die Querstrebe hatte ihn am Kopf in Nähe der Schläfe getroffen. Dort, man konnte es bereits sehen, entstand ein großes Hämatom.
Nach gründlichem Betasten des Schädels waren sich sowohl Sedûn als auch der Arzt sicher, dass der Schädel selber nicht verletzt sei. Aber beide konnten nicht sagen, welche Auswirkungen der Schlag an den Kopf und der damit zusammenhängende Sturz vom Dach für meinen Vater haben würden.
Der Arzt riet zur Geduld.
Zuerst einmal bandagierte er die Schulter und schiente das Bein. Dann bereitete er einen Umschlag aus Kräutern für den Brustkorb und den Kopf. Danach sprach er eindringlich auf meine Mutter ein und ich sah, wie sie dankbar nickte.
Mein Vater lag inzwischen auf dem Bett im Wohnraum. Er war sehr blass und atmete flach.
Manchmal durchlief ein Zittern seinen Körper, dann bewegten sich die Augen unter den geschlossenen Liedern.
Obwohl mein Vater in tiefer Bewusstlosigkeit dalag, hatte ich das Gefühl, dass er die Dinge um ihn herum wahrnahm. Ich kann nicht sagen warum, denn schließlich gab er keinerlei Rückmeldung und doch ahnte ich dass er die ihm entgegengebrachte Liebe und Fürsorge spürte und dass sie ihm auch letztlich half wieder aufzutauchen und die Augen wieder aufzuschlagen.
Doch bis dahin sollten für uns noch Bange zwei Monate vergehen.
In dieser Zeit erfuhr ich eindringlich was es bedeutet Freunde zu haben und in ihrer Gemeinschaft leben zu dürfen.
Alle standen uns bei, halfen uns wo sie nur konnten und teilten mit uns was sie besaßen.
Die Freunde meines Vaters nahmen mich mit zur Arbeit, ließen mich leichte Dinge machen und teilten mit mir ihren Lohn, so dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen konnten.
Meine buddhistischen Freunde waren mir jedoch der größte Trost. Ich war jeden Tag bei ihnen, betete und meditierte mit ihnen und bat Sedûn darum mir beizubringen, was ich ihn bei meinem Vater tun sehen hatte.
Er musste über meinen kindlichen Enthusiasmus lachen, war aber gerne bereit mich in die Geheimnisse seiner medizinischen Lehren einzuweihen, soweit ich die Dinge bereits begriff.
Nur, so betonte er, bedarf es dazu eines lebenslangen Lernens und offener Ohren, Augen und eines offenen unvoreingenommenen Herzens.
Als er dann zu erzählen begann hörte ich ihm aufmerksam zu und sog alles wie ein Schwamm in mich auf.
Er war ein geduldiger Meister und ich, so hoffe ich wenigstens, ein gelehriger Schüler.
Was ich in diesen Monaten von ihm erfuhr, und was ich in dieser Zeit über das Mitleid begriff, hat mich für mein Leben geprägt und mir später die Ausbildung eigener heilender Kräfte ermöglicht.
Ich begriff, dass es wichtig ist immer den ganzen Menschen zu betrachten, ihm in sein Inneres zu sehen und zu ergründen versuchen, wo sich seine Stärken und Schwächen befinden.
Nur in einem ganzheitlichen Betrachten des Menschen liegt die Heilung.
Alles andere ist ein Herumdoktern an Symptomen.
Endlich nach langen zwei Monaten erwachte mein Vater aus dem Koma.
Die Zeit der Ruhe hatte seiner Schulter und seinem Bein gut getan. Beide Brüche waren verheilt, die Prellungen im Brustraum seit Wochen abgeklungen.
Doch diese Zeit der geistigen Abwesenheit hatte Spuren in ihm hinterlassen. So erinnerte mein Vater sich anfangs nicht an uns. Mein Vater musste sich seine Erinnerung an sein Leben vor dem Unfall mühsam zurückerkämpfen, wobei ihm leider nur wenige lichte Momente vergönnt waren und auch seine motorischen Fähigkeiten waren stark eingeschränkt.
Wenn es nicht so traurig gewesen wäre hätten wir über seine Ungeschicklichkeit beim Essen lachen können. Dieser Mann, der ein Meister seines Handwerks gewesen war und uns Kindern einst die wunderbarsten Tiere und Figuren geschnitzt hatte, musste nun erst wieder mühsam lernen wie man richtig isst und wie man Hände und Füße zu koordinieren hat, um damit effektiv zu arbeiten.
In dieser Zeit verspürte ich eine große Last auf meinen jungen Schultern.
Vieles lag nun in meinen Händen.
Die Freunde meines Vaters nahmen mich noch immer mit zur Arbeit und teilten ihren Lohn mit mir.
Nun war ich plötzlich der Mann im Haus, hatte Entscheidungen meine Geschwister betreffend zu treffen, zahlte die monatlichen Abgaben und hielt den Kontakt zur jüdischen Gemeinde aufrecht.
Am Schabbat betete ich mit den Männern in der Synagoge.
Aber in meiner Freizeit, die plötzlich einen ganz anderen Stellenwert für mich bekommen hatte und mir heilig geworden war, hielt ich mich bei meinen buddhistischen Freunden auf und ließ mich in ihre Kunst des Betens, des Meditierens und Heilens einweisen.
Mit meinen zwölf Jahren fühlte ich mich plötzlich erwachsen und dazu berufen meine Familie, die inzwischen aus neun Personen bestand, zu versorgen.
Die Rollen hatten sich vertauscht.
Mein Vater, der kluge, starke und besonnene Jehosaf, war nun ein Kind geworden, in einigen Dingen ungeschickter und ungelenker als es unser Nesthäkchen Rahel war.
Meine Mutter sah, wie ich von einem Moment auf den anderen erwachsen werden musste.
Für sie muss die Belastung noch größer gewesen sein als für mich, denn letztlich war sie für alles verantwortlich.
So gut es ging versuchte ich ihr die Dinge abzunehmen, doch ihre Sorge um unsere Familie konnte ich ihr nicht nehmen.
Und obwohl wir uns in Alexandria in all den Jahren sehr wohl gefühlt hatten entschied sie, dass wir unter diesen Bedingungen zurückgehen sollten. Zurück in unsere Heimat. Zurück nach Nazareth in Galiläa.
Dort lebten Verwandte die uns beistehen würden. Da war ein Heim für das nicht monatlich Miete zu zahlen wäre. Dort würden ihre Kinder in der Tradition der Väter aufwachsen und erzogen werden. Dort war, zumindest in ihren Augen, Sicherheit.
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