Es ging uns ziemlich gut. Vater hatte Arbeit und verdiente Geld.
Unsere Familie wuchs und bald schon mussten wir uns ein neues Zuhause suchen, da unsere alte Mietwohnung zu klein geworden war.
Ganz in der Nähe unserer neuen geräumigen Bleibe lebten buddhistische Mönche, die mit ihrer Kleidung und ihren tägliche Ritualen nicht nur die Aufmerksamkeit meiner Eltern, sondern auch die meine weckten.
Sie waren sehr freundliche und hilfsbereite Menschen, und obwohl ich nicht erkennen konnte womit sie ihren Lebensunterhalt verdienten, lebten sie sehr zufrieden und entspannt neben uns, und ihre innere Ruhe und Kraft strahlte geradezu aus ihnen.
Sie schienen nie hungrig zu sein, versenkten sich tagtäglich in Gebet und Meditation und lebten ausschließlich für ihren Glauben.
Ich fragte sie eines Tages wie sie das denn machen würden, immer nur beten und dabei gar nichts zu essen. Da lachte einer der Mönche und verriet mir, dass sie von den Spenden gläubiger Menschen leben würden, dass sie aber auch nicht viel zu ihrem Lebensunterhalt benötigten und dass man mittels tiefer Meditation jegliche Bedürfnisse nach Essen und Trinken oder auch andere menschliche Bedürfnisse sehr stark reduzieren könne. Es wäre ihnen ein Anliegen, so fuhr er fort, ihren Körper beherrschen zu lernen, so wie es ihr Gründer und Meister Buddha Siddharta Gautama vermocht hätte.
Ich war fasziniert von diesen bescheidenen, ruhigen und so zufrieden und glücklich wirkenden Mönchen. Immer häufiger saß ich bei ihnen anstatt mit meinem Vater zu gehen. Ich sah ihnen zu, versuchte zu begreifen und war froh, dass meine Eltern mich diese Erfahrungen sammeln ließen.
Es wurde für mich zu einem täglichen Ritual jeden Morgen in der Frühe, kurz nach Tagesanbruch, gemeinsam mit den Mönchen zu beten und zu meditieren. Ich war erstaunt, welche Ruhe und Kraft mir diese Übungen mit der Zeit gaben. Ich fragte die Mönche alles was mir in den Sinn kam und obwohl ich ein Kind war nahmen sie mich ernst.
Eine Frage die mich besonders stark beschäftigte war die nach dem Mitleid, einem sehr zentralen Aspekt der buddhistischen Religion. Die Mönche waren sehr geduldig und antworteten mir auf alle meine Fragen.
Damals habe ich nicht alles verstanden was sie mir erzählten und über ihre Religion erklärten, doch ich spürte dass ihre Religion ein ausgewogenes, auf Toleranz basierendes Miteinander aller Lebewesen auf dieser Erde zu verwirklichen suchte.
Sie betrachteten sich selbst nicht höher oder besser gestellt als Menschen anderer Nationalitäten oder anderen Glaubens. Nein, im Gegenteil. Sie sahen sich auch nicht höher gestellt als jedes beliebige Tier oder jede Pflanze. Sie sahen in jedem Geschöpf auf dieser Erde ein zu achtendes Individuum dem Respekt entgegen zu bringen ist.
Dies stand in starkem Kontrast zu unserer naturfeindlichen Religion.
Uns Juden war die Natur immer als Feind entgegen getreten, die uns Opfer und Mühen abverlangte und uns ihren Widerwillen entgegensetzte.
Bei dem Auszug unseres Volkes aus Ägypten ins gelobte Land hatte man Hunger und Durst gelitten und die Härte und Unbarmherzigkeit der Natur der Wüste erlebt.
Aufgrund dieser Erfahrungen entwickelte sich allmählich der Blick auf die Natur als unserem Feind, den es zu besiegen galt.
Mosche und die späteren Führer unserer Stämme hatten uns gelehrt zu versuchen die Natur zu besiegen. Doch der Preis war hoch gewesen, und so setzte sich die Erinnerung an den Kampf gegen die Natur in unserem Gedächtnis fest. Er fand schließlich auch Eingang in unsere Rituale und Gebete und irgendwann hatte er Eingang in die Gesetze gefunden. Ein Gesetz unseres Gottes besagte sich die Natur „untertan“ zu machen und sie zu bekämpfen und zu beherrschen.
Meine buddhistischen Freunde lehrten mich jedoch, dass es auch eine andere Sichtweise geben kann. Jene nämlich, die Natur als Begleiter, als Freund und als Leben Spender zu betrachten und zu akzeptieren, nicht gegen die Natur zu leben, sondern im Einklang mit ihr.
Die Mönche lehrten mich die Individualität und den besonderen Wert eines jeden Lebewesens auf dieser Erde zu erfassen und zu schätzen.
Sie machten mich auf die Schönheit und Grazie der Tiere und Pflanzen aufmerksam.
Sie öffneten mir die Augen und das Herz und machten mich sehend für das Wunder der Schöpfung.
Durch sie erfuhr ich welches Geschenk es ist an einer Blume riechen zu dürfen und sich an ihrem süßen Duft zu berauschen.
Sie machten mir bewusst, dass sich die Pflanzen und Tiere opfern um uns als Heilmittel oder Speise zu dienen, und dass deshalb ein wahlloses Töten von Pflanzen und Tieren ein großes Verbrechen darstellt.
Und auf einmal begriff ich das Mosche wohl falsch verstanden worden sein musste als er vom „Opferlamm“ sprach.
Nicht wir opfern das Lamm unserem Gott zur Besänftigung seines Zornes oder um ihn wohl gesonnen zu stimmen, sondern Gott opfert eines seiner Geschöpfe , ein Lamm, um unseren Hunger zu stillen, um unser Überleben zu sichern. Das Lamm gibt sein Leben her, um unseres zu erhalten.
Gibt es einen noch größeren Beweis von Liebe?
Natürlich sind mir diese Einsichten in dieser Klarheit damals nicht gleich so deutlich geworden.
Ich war jung und unerfahren, ein Wanderer zwischen den Welten.
Auf der einen Seite waren da die Traditionalisten und Bewahrer, die in ihrer konservativen und unflexiblen, ja engstirnigen Auslegung der Worte und Gesetze Mosches und der Propheten meinten, unseren Glauben hier im Exil wahren zu müssen.
Auf der anderen Seite stand dem Traditionellen das Lebensgefühl, die Lebensfreude und die multikulturelle Vielfalt unseres Wohnviertels gegenüber.
Hier waren es vor allem die arabischen Händler, die indischen Kaufleute und nicht zuletzt die buddhistischen Mönche, die mit ihrer Lebensfreude und ihrem eigenen Glauben auf mich wirkten und mich zugegeben auch etwas verwirrten. Denn sehr oft standen sie im starken Kontrast zu unserer jüdischen Lebensweise und unseren Glaubensvorschriften.
Warum zum Beispiel sollte ein Schwein nicht „Koscher“ sein? – Etwa weil es im Dreck wühlt?
Auf solche oder ähnliche Fragen gaben mir meine jüdischen Lehrer entweder gar keine Antwort oder sie sagten: „Das Gesetz schreibt es so vor“.
Fragte ich meine buddhistischen Freunde etwas, so öffneten sie mir zuerst die Augen und ermunterten mich dann, selbst nach einer Antwort zu suchen.
Ich will versuchen am Beispiel mit dem Schwein zu erklären was ich damit meine.
Als ich danach fragte, warum sie glauben dass ein Schwein nach Auffassung unserer Religion als nicht koscher zu betrachten sei, weil ich den Grund dafür selbst nicht ergründen konnte, mussten meine buddhistischen Freunde zuerst einmal herzlich lachen, entschuldigten sich dann jedoch sogleich dafür, denn sie wollten mich mit einer Unhöflichkeit nicht verletzen oder sich über unsere Religion lustig machen.
Dann aber versuchten sie mir zu erklären wie sie die Angelegenheit betrachteten.
Vordergründig gesehen, so sagten sie, sei ein Schwein zwar schmutzig, denn es wühle im Dreck, wälze sich in Schlammpfützen und fresse alles was man ihm zuwerfe, beim genaueren Hinsehen jedoch, so fuhren sie fort, und wenn man es mit unserem menschlichen Verhalten vergleiche, so ergebe sich ein differenzierteres Bild des Schweins.
„Das Schwein wühlt im Dreck! Aber warum?“, fragten sie mich.
Ich antwortete: „Es sucht nach Wurzeln und Pilzen“.
„Ganz genau“, war ihre Antwort, „…und diese Wurzeln und Pilze sind für uns Menschen eine Delikatesse, die wir den Schweinen, die sie offensichtlich auch gerne essen, rauben. Wir benutzen die feine Nase der Schweine dazu, Leckerbissen für unseren Gaumen zu finden, verachten aber gleichzeitig ihr Wühlen im Dreck.
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