Dann verabschiedete sich Mutter mit den Worten: „Auf Wiedersehen in sieben Jahren.“ Das war die Mindestzeit, um Kapitän zu werden, und das erwartete – wenn auch scherzhaft gemeint – sie von mir.
Nun war ich allein auf dem Schiff. Meine Sachen musste ich ins Ruderhaus stellen, weil meine Koje im Vorschiff noch von einem Leichtmatrosen belegt war, der erst am nächsten Tag von Bord gehen würde. Dann kam der Kapitän mit einem Auftrag. Ich musste ihn zur Post begleiten und ein großes Paket tragen. Es war wirklich schwer und zerrte an meinen Armen. Dann nahm ich es auf eine Schulter und wälzte es bald von der einen auf die andere Seite. Dabei musste ich mit dem Kapitän Schritt halten. Meine erste Arbeit, dachte ich. Hoffentlich ist nicht die ganze Seefahrt so schwer. Eine dunkle Ahnung beschlich mich. Doch, noch bevor wir die Post erreichten, wurde ich von der Last erlöst und eilte zurück an den Hafen, wo ich mir in einem der vielen kleinen Läden, die an der Hafenstraße lagen, um die Seeleute mit dem Nötigsten zu versorgen, ein Paar Holzpantoffeln kaufte.
Zurück an Bord, lernte ich weitere Besatzungsmitglieder kennen, die sich inzwischen eingefunden hatten. Da war Frau Krüger, die Witwe des Schiffseigners, deren 22jähriger Sohn auf dem Schiff als Steuermann fuhr. Er sollte dann später das Schiff als Kapitän fahren. Frau Krüger bewohnte die Kapitänskammer neben dem Salon. Der Steuermann die Steuermannskammer und der Kapitän die Maschinistenkammer. Alle Räume waren durch einen Korridor verbunden, der um den Maschinenschacht herumführte. Ein Maschinist fuhr das Schiff nicht, die nötigen Arbeiten an der Maschine besorgte der Matrose Eugen, der Bestmann. Im Übrigen wurde die Maschine vom Ruderhaus aus bedient.
Den inneren Korridor erreichte man durch die Kombüse, wie man an Bord die Küche nennt. Sie unterschied sich eigentlich nicht von einer Küche an Land – bis auf die schwere Eisentür, die mit zwei kräftigen Riegeln wasserdicht verschlossen werden konnte. Von Deck stieg man über eine etwa kniehohe Schwelle auf eine Stufe in der Kombüse, die etwas tiefer als das Deck lag. Kam man hinein, so befand sich zur Linken ein großer Kohleherd mit mehreren Feuerstellen, die mit Herdringen abgedeckt waren. Dahinter befand sich an der Bordwand ein Spülbecken mit einer Geschirrablage zum Abtropfen des Geschirrs. Daneben an der Bordwand war ein Küchenschrank mit Türen und Schüben, wie er in den Küchen üblicherweise verwendetet wurde. An der Wand gegenüber der Eingangstür war die Tür zur Maschinistenkammer. An der vierten Wand waren neben der genannten Kammertür der Zugang zum inneren Korridor und ein tischhohes Schränkchen, an dem die Matrosen ihre Mahlzeiten einnahmen. Der Fußboden war mit schwarzen und weißen Fliesen belegt und die Wände mit elfenbeinfarben gestrichenen Brettern verkleidet. Dies war nun mein Revier, in dem ich nun unter der Regie von Frau Krüger zu wirtschaften hatte. Man lobte den Jungmann Manfred, der alles schön sauber und ordentlich gehalten hatte, und ich versprach, es gleichfalls zu tun. Dann fragte mich meine Küchenregentin, wie ich denn hieße. Als ich ihr meinen Namen nannte, sagte sie: „Nun haben wir auch einmal einen Arne.“ So, wie sie die Antwort formulierte, hatte ich den Eindruck, dass hier die Schiffsjungen sehr häufig wechselten. Schließlich wurde man ja erst nach einem Jahr befördert. Dass dieser schwache Hinweis sich zu einem schwerwiegenden Umstand entwickelte, sollte ich dann bald erfahren.
Doch zunächst war alles neu und interessant für mich, und ich überlegte auch gleich, wo ich mich denn am besten aufhalten könne, wenn ich Freizeit hätte, um möglichst viel von der Welt zu sehen. So schaute ich erst einmal aus der Kombüsentür nach vorn. Das Vorschiff ragte hoch hinauf, denn das Schiff war leer. Über dem Bug konnte man nur den Himmel sehen. Lediglich zur Seite war der Blick frei. Auf der rechten – auf dem Schiff spricht man von Steuerbord – war die Kaimauer, und auf der linken – Backbord genannt – lagen weitere Schiffe, die zu fünfen oder sechsen ein Päckchen bildeten. So wurde unser Schiff zum Durchgang für alle Besatzungsmitglieder der benachbarten Schiffe, die munter über Deck und Luken das Schiff überquerten, teils mit Seesäcken bepackt, wenn sie ab- oder anheuerten. Sogar eine Seekiste habe ich gesehen, die zu zweit über die Schiffe bugsiert wurde. Unser Schiff war unter den vielen anderen noch das größte, ein recht modernes Küstenmotorschiff, während die anderen altmodische Motorsegler waren.
Die Nacht musste ich im Kartenhaus verbringen, weil meine Koje noch nicht frei war. Eine schwach gepolsterte schmale Bank war meine bescheidene Lagerstatt. Lange lag ich wach, die vielen neuen Eindrücke ließen keinen Schlaf aufkommen. Selbst im Dunkeln auf dem Schiff gab es immer wieder Neues wahrzunehmen. Das Schiff schaukelte leicht auf den kleinen Wellen im Hamburger Hafen, die ständig gegen das Achterschiff platschten. Dann fuhr ein Schiff vorbei. Man hörte deutlich die Maschinengeräusche näherkommen und wieder verschwinden. Die Bugwelle schlug kräftig gegen das Schiff. Wieder und wieder fuhren Schiffe vorbei, mal näher, mal ferner. Signalhörner tuteten, und Dampfpfeifen heulten über die Elbe. Doch endlich überkam mich die Müdigkeit, und ich schlief ein.
Am anderen Morgen war ich zeitig wach, erhob mich leise von meinem spartanischen Lager und sah mich um. Das Kartenhaus mit seinem Kartentisch lag hinter dem Ruderhaus, in das ich hinüber ging. Bewegte etwas das Ruderrad, betrachtete den Kompass und stellt mir vor, das Schiff zu steuern. Wann würde ich wohl das erste Mal hier meinen Dienst tun?
Ich sah durch das Fenster auf das Schiff; sah die hintere und die vordere Ladeluke, zwischen denen der Mast stand. Ganz vorne führten auf jeder Seite Treppen zur Back hinauf, unter der das Mannschaftslogis war. Eine Niedergangkappe deckte die Treppe nach unten ab. Aber da öffnete sich schon die Tür, und Manfred erschien an Deck. Er sah mich und winkte mich sofort mit gebieterischer Geste nach unten in die Kombüse. Mein Dienst begann. Manfred machte mich nun mit meinen täglichen Pflichten vertraut. Morgens um 6 Uhr hatte ich mich von einem Wecker wecken zu lasen, aufzustehen und in der Kombüse Feuer zu machen. Dazu öffnete er eine Kiste, die als Stufe am Kombüseneingang diente, entnahm ihr eine Konservenbüchse, in der im Dieselöl Kleinholz stand. Er öffnete den Herd, legte das dieselgetränkte Holz hinein, gab Steinkohle darauf und zündete das Holz an. Es dauerte nicht lange, da brannte im Herd ein kräftiges Feuer. Nun wurde Kaffeewasser aufgesetzt und zum Kochen gebracht. Aus einer Büchse holte er Kaffee, der sich als richtiger Bohnenkaffee erwies. Er war damals an Land noch eine Köstlichkeit, die auf dem Schwarzen Markt nur mit viel Geld zu haben war. Der Tisch wurde mit Messern, Brettern und Muggen gedeckt. Im Schrank hatte jeder seinen Teller mit seinem Proviant, der ihm regelmäßig zugeteilt wurde. Butter, Käse, Wurst, Marmelade. Brot gab es reichlich, so dass es nicht zugeteilt zu werden brauchte. Jeden Morgen wurde ein ganzes Brot mit der Hand in gleichmäßige Scheiben aufgeschnitten. Ich bekam soviel Übung darin, dass eine Scheibe der anderen glich. Der Kapitän wurde von mir nicht geweckt. Er kam nur, seinen Kaffee zu brühen und verschwand damit im Salon. Ich bekam nur sein Geschirr zum Abwaschen.
Manfred wies mich in die weiteren Aufgaben ein. Zunächst war Backschaft zu machen, so nennt man das Abwaschen, und Aufklaren der Kombüse. Der Tagestank war mit Frischwasser vollzupumpen. Im Maschinenschacht war eine Schwengelpumpe, mit der das Wasser aus dem großen Tank im Schiffsboden in den über der Kombüse gelegenen Tagestank zu pumpen war, bis das überlaufende Wasser unten in die Bilge plätscherte. Dann waren Kartoffeln zu schälen. Hinter dem Ruderhaus war das so genannte Kartoffelhuk, eigentlich ein Niedergang, der aber mit Brettern verschlossen war, auf denen nun die Kartoffeln lagerten. So setzte ich mich in der Kombüse auf einen Hocker, nahm eine Pütz zwischen die Beine, legte die Unterarme auf die Knie und begann mit dem hinteren Ende der Messerklinge meine Arbeit. Der Kapitän sah das und sagte: „Beim Kartoffelschälen legt man nicht die Arme auf die Knie, man sitzt gerade.“ Ich setzte mich gerade hin. Nach einer Weile kam er wieder und sah das Messer. „Mit diesem Messer werden keine Kartoffeln geschält. Du nimmst dieses hier!“ In meinem Eifer, alles zur Zufriedenheit auszuführen, sagte ich nicht einfach „ja“ sondern „ja, ja“. – „Du sollst nicht immer ja, ja sagen, und außerdem hältst du das Messer falsch. Du musst mit der Spitze schälen. Hörst du?“ – „Ja, ja“, antwortete ich. „Du sagst ja schon wieder ja, ja! Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht immer ja, ja sagen sollst!“ Mir war unklar, warum ich nicht ja, ja sagen sollte, war es doch in bester Absicht geschehen. Aber da er es wünschte, bemühte ich mich, mit einem einfachen Ja zu antworten. Nach einer Weile hatte ich die Kartoffeln geschält, und der Kapitän gab Anweisung, die Kartoffeln zu waschen. „Du nimmst dir jetzt eine Back und stellst sie auf die Back.“ Er stutzte einen Augeblick und meinte: „Bei uns heißt alles Back. Die Schüssel hier ist eine Back, dieser Tisch ist eine Back, und da vorne ist auch eine Back.“ Dabei zeigte er auf den erhöhten Teil des Vorschiffes. Ich kannte die Begriffe bereits und sagte im Eifer ja, ja. „Du sagst ja schon wieder ja, ja! Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht immer ja, ja sagen sollst!“ Ich nahm mir nun vor, besser auf mein ja, ja zu achten, damit nicht wieder so etwas passierte. „So, nun wäschst du die Kartoffeln dreimal.“ Aber das Unglück wollte es, dass ich, durch die Arbeit abgelenkt, wieder ja, ja sagte. „Mann, wat büst du dämlich!“, fuhr mich der Kapitän an. „Jetzt sagst du schon wieder ja, ja! Weißt du nicht, was das heißt?“ – „Nein“, sagte ich leise. „Na, dann will ich es dir sagen“, und er zitierte die bewusste Stelle aus dem „Götz von Berlichingen“. Nun war ich im Bilde und hütete mich jetzt ganz besonders vor einem nochmaligen ja, ja. Es ging wirklich eine Zeitlang gut, bis es mir dann doch wieder einmal im Eifer über die Lippen rutschte. Der Kapitän sah mich mitleidig an und sagte: „Ach Moses, wat büst du doch dämlich!“ Nun hörte ich zum ersten Mal das Wort „Moses“. Ich kannte die Bezeichnung für Schiffsjungen nicht und glaubte, es wäre eine Bezeichnung für Doofe. Ich sah zwar keinen Zusammenhang mit dem biblischen Propheten, aber bei volkstümlichen Bezeichnungen war man sich ja nie ganz sicher. Nun redete er mich fortan mit Moses an, was mich jedes Mal kränkte, da ich mich ja nun doch nicht für so doof hielt.
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