Nach erfolglosem Bemühen, den Dom von innen zu sehen, machte ich einen Stadtbummel. Es war vieles zerstört, aber dennoch machte die Altstadt einen aufgeräumten Eindruck. Ich sah mir die Schaufenster an, von denen mir eines in Erinnerung geblieben ist. Es enthielt einige Bilder mit holländischen Trachten und den Text: „How to make my stay in Holland.“ Ich wunderte mich darüber, denn wer von den Deutschen durfte nach Holland reisen und wenn, wer würde noch darüber nachdenken, wie er seinen Aufenthalt dort gestalten könnte. Es war das Reisebüro der britischen Besatzungstruppen.
Die Rückreise ging zunächst bis Duisburg-Ruhrort, dem größten Binnenhafen Deutschlands. Der Kapitän hoffte, dort Ladung zu bekommen. Ich wurde wegen einiger Besorgungen an Land geschickt. Die Stadt machte einen grauen und trostlosen Eindruck. Der Kapitän war an Land gewesen und kam wütend zurück. „Es gibt kein Fleisch zu kaufen. Nicht mal ein bisschen Wurst. Moses, hast du was gesehen?“ – „Ich habe jemanden mit Blutwurst in der Hand gesehen“, sagte ich. „Das ist doch keine Wurst, die man essen kann, die hält sich doch nicht.“ Die Versorgung im Ruhrgebiet war wirklich nicht gut, und wir waren durch die Schiffsversorgung in den großen Hafenstädten und die Einkäufe im Ausland schon sehr verwöhnt. So mussten wir uns jetzt mit dem behelfen, was wir an Bord hatten.
Als Ladung bekamen wir Kies, den wir in Rees an Bord nehmen sollten. Dazu fuhren wir ein Stück rheinabwärts und legten an einem Bagger an, der mitten im Fluss lag und die Fahrrinne ausbaggerte. Unser Schiff wurde nur zum Teil beladen; es war ein wenig Ballast, der das Schiff auf bewegter See ruhiger fahren ließ.
Während unserer Fahrt rheinabwärts konnte ich meine Arbeit bei ruhigem Wasser verrichten, ohne von der Seekrankheit geplagt zu werden. Ich hatte mich in viele Dinge hineingefunden und durch manche Fehler einiges gelernt, so dass eine volle Harmonie mit der übrigen Besatzung hätte hergestellt sein können. Es war aber nicht so. Der Alte zeigte sich jetzt mir gegenüber oft von einer scheußlichen Seite und erfand immer wieder neue Sachen, mit denen er mich schikanieren konnte.
Bald hatten wir Rotterdam passiert und befanden uns wieder auf der Nordsee, die mäßig bewegt war und bei mir wieder die Seekrankheit hervorrief, was dem Alten gar nicht mehr gefiel. Er wurde richtig böse, als er mich wieder auf meiner Kiste an der Tür mit bleichem Gesicht und vor Übelkeit speiend sitzen sah. Das Herdfeuer war inzwischen ausgegangen, und der Alte tobte wegen meiner Nachlässigkeit. Sogleich stand ich auf, und als ich mich vor die Ofentür beugte, um das Feuer wieder in Gang zu bringen, bekam ich von ihm einen Fußtritt in mein Hinterteil, so dass ich mich lang auf den Herd legte. Mit üblen Verwünschungen verschwand er dann in seinem Salon. Ich war in doppelter Weise niedergeschlagen. Zur Übelkeit kam nun noch die schlechte Stimmung gegen mich an Bord, die ich mir nicht recht erklären konnte, denn anfangs war man doch freundlicher zu mir. Doch das hatte sich inzwischen geändert. Die Matrosen sprachen nur noch das Notwendigste mit mir, und im Übrigen war ich ziemlich isoliert, ein Zustand, der auf einem Schiff schwer zu ertragen ist, weil man sich in den begrenzten Räumen kaum aus dem Wege gehen kann. Ständig ist man irgendwie in dem engen Raum des Schiffes beieinander, sei es im Logis, auf der Brücke oder in der Kombüse. Andere Räume gab es nicht, wo ich mich aufhalten konnte. Seekrank, hatte ich nur den einen Wunsch, mich irgendwo hinzulegen, da kam ich auf die Idee, mich in das Kartoffelhuk zu legen. Ich legte mich auf die Kartoffeln und ließ Seefahrt Seefahrt sein. Doch nach einiger Zeit wurde die Tür aufgerissen. Eugen hatte mich gesucht und schließlich in meinem Versteck gefunden. Es ist nun mal so, dass man an Bord immer wissen muss, wo sich die Mannschaftsmitglieder befinden; besonders den Moses hat man immer im Auge. Er könnte ja auch über Bord gefallen sein. Deshalb musste er gesucht werden.
In Hamburg machten wir zunächst in Altona fest, ehe das Schiff entladen wurde. Es dauerte nicht lange, da bekam Manfred Besuch von seinem Vater. Er war Maschinist auf einem Schiff und unterhielt sich mit dem Alten. Er erkannte mich wieder und hatte ein paar freundliche Worte für mich: „Na, ein bisschen dicker bist du ja geworden.“ Dieser Besuch machte mich so richtig traurig. Wie gerne hätte ich jemanden gehabt, der mal meinetwegen mit dem Kapitän gesprochen hätte. Aber ich hatte ja niemanden, der sich meiner annehmen würde. Mutter war wieder auf Hiddensee, Vater war im Krieg verschollen. Großmutter und Tante in Neumünster waren nun auch nicht gerade in der Nähe. So stand ich mit meinem Kummer allein da und wusste nicht recht, was nun eigentlich los war.
Zu allem Unglück bekam ich einen Hautausschlag, der von Eugen entdeckt wurde. Man schickte mich zum Vertrauensarzt, der Krätze diagnostizierte und fragte, ob nicht die anderen an Bord auch davon befallen wären. Er gab mir eine Flasche mit einer stinkenden Tinktur zum Einreiben mit. Am Bord erzählte ich ein wenig unbekümmert, dass ich die Krätze hätte, was wie ein Stich ins Wespennest wirkte. Man behandelt mich jetzt wie einen Aussätzigen. Die Kojen wurden in aller Eile von Eugen und Hein mit Seifenlauge ausgewaschen; ich durfte nur noch bestimmte Essgeräte benutzen, und die Toilette musste ich nach jeder Benutzung scheuern. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt, die Stimmung unerträglich. Mich bewegte nur der eine Gedanke, ob man mich noch länger an Bord behalten würde oder ob ich einen Sack bekäme, wie es in der Seemannssprache heißt, wenn jemand von Bord gejagt wird.
Abends, als wir beim Abendbrot saßen, kam der Alte in die Kombüse und sagte strahlend: „Wisst ihr, wo wir hinfahren? Nach London! Und zwar mit Kalzium. Weiß jemand, was Kalzium ist?“ – „Kalium kennen wir“, kam die Antwort von Hein. „Aber Kalzium?“ – „London!“ fuhr es mir durch den Kopf. „Nach London geht die Reise!“ Wie viel hatte ich schon von dieser Stadt gehört, und nun war ein Besuch greifbar nahe. Aber dann überfiel mich der Gedanke, dass mich der Alte wohl doch nicht mitnehmen würde. Was hätte ich dafür gegeben, mitfahren zu dürfen.
Am nächsten Tag fuhren wir nach Finkenwerder zum Löschen und waren bald wieder zurück in Altona. Ich hatte meinen Waschtag und war gerade dabei, meine gute Landganghose vorschriftsmäßig an der niedrigsten Stelle des Schiffes auf einem Lukendeckel, der quer zum Schiff auf Reling und Lukenrand gelegt wurde, zu scheuern, als ein etwas älterer Junge an Bord kam und mich nach dem Kapitän fragte. „Ich soll hier als Schiffsjunge anfangen“, sagte er, was für mich die schwerwiegende Nachricht war, ich müsse nun von Bord gehen. Ich war sehr niedergeschlagen. Waren doch der Traum von der Seefahrt und dazu noch die Reise nach London endgültig für mich vorbei. Was werden sollte, wusste ich nicht. Ich dachte auch nicht weiter darüber nach. Bald kam der Alte und fragte mich beiläufig, ob ich meine Sachen schon gepackt hätte. Nun stand ich da mit meiner nassen Wäsche, die ich nun nicht mehr trocknen konnte, denn ich musste noch am selben Tage von Bord gehen. Der Alte zahlte mir meine restliche Heuer aus, die sich auf ein paar Mark belief, gab mir noch ein paar Lebensmittelmarken, die er bei der Schiffversorgung nicht mehr benötigte, denn manches, insbesondere Brot, bekam er dort schon ohne Karten, obwohl an Land die Lebensmittelkarten noch längst nicht abgeschafft waren.
Regelrecht demütigend benahm sich Eugen. Vor seinen Augen musste ich meine Sachen packen. Er kontrollierte jedes Stück, schloss dann alle Schränke ab und nahm die Schlüssel an sich. Nun wurde ich nicht nur wie ein Aussätziger behandelt, sondern auch noch wie ein Dieb von Bord geschickt. Ich war zutiefst verletzt und ständig dem Heulen nahe.
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