Sie ist eine so feine Seele.
Sie hat die Anstalt jetzt seit zweieinhalb Jahren verlassen. Doch noch immer braucht sie ihre regelmäßige therapeutische Betreuung.“
„Hört sie noch Stimmen? Macht sie noch manchmal von ihrem Pendel Gebrauch?“
„Das, Gott Lob, ist alles vorbei. Aber weiterhin hat sie diese bipolare Störung, wie man es nennt, sie ist manisch-depressiv.
Lass dich nicht täuschen, wenn sie dich anstrahlt und sie dir wie das blühende Leben erscheint. Es ist nur das eine Blatt. Es hat eine Kehrseite und es wendet sich rasch. Dann sitzt sie wieder starr und in Depressionen gefangen an ihrem Dachbodenfenster. Sie verweigert in diesem Zustand jede Kommunikation.
Ich will es dir nur sagen. Du musst es wissen.“
Stella nickte.
Die Tante griff wieder nach ihrer Hand, drückte sie sanft.
Stella fühlte für einen Moment, dass sie diesen Druck erwidern wollte. Doch noch war der Zeitpunkt nicht reif. Die Bitternis und die Vorwürfe der Tante, die nach dem Unfalltod der Eltern noch zunahmen, verhärteten sie in ihrem Entschluss, Freiburg für Jahre fern zu bleiben. Und das wieder hatte die Tante ihr zum Vorwurf gemacht: ihre Halbschwester im Stich zu lassen, die seit jener Nacht der Schrecken in einem tiefen Trauma gefangen blieb.
Alle hatten sie über Jahre schrecklich gelitten. Und das Leiden, das unerträgliche, hatte sie noch entzweit. Es hätte sie, als gemeinsames Leiden, auch enger zusammenschweißen können. Vielleicht war dieser Zeitpunkt endlich gekommen.
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Rebekka und der Onkel trafen ein.
Der füllige Onkel begrüßte sie mit einer stürmischen Umarmung, nicht ohne zuvor seine unverzichtbare Zigarre an seinem Schuh auszudrücken.
Die Umarmung mit Rebekka war zart, doch lange und innig. Die Halbschwester trug ein ärmelloses sommerliches Kleid mit grüner Samtweste, ihre Haare waren nicht mehr zu einem Knoten gebunden und offen, sie hatte ihre Lippen geschminkt und sogar Lidschatten über die Augen gemalt.
Der Onkel wollte während der Fahrt alle Einzelheiten von Stellas Flug wissen, Strecke Toronto München, obwohl es außer Banalitäten da nichts zu berichten gab, die Fahrt in den Außenbezirk verlängerte sich durch einen Stau auf fast eine Stunde, dann erkannte Stellas das Haus.
Sie staunte etwas, wie wenig sich in all den vergangenen Jahren geändert hatte. Auf dem weitläufigen Gartengelände gackerten noch immer die Hühner, drei Ziegen grasten hinter dem Haus, am Gartenteich schnatterten Gänse und Enten und auch die Kaninchenställe waren wie immer voll.
Es war Rebekkas Aufgabe, sich um diese Tiere zu kümmern. Das tat sie, seit sie aus der Anstalt entlassen war, zuverlässig, erzählte die Tante.
Rebekka zeigte Stella auf dem Dachboden ihren neuen Arbeitsplatz: mit Nähmaschine, Zwirnen, Nadeln und Scheren und vielen Stoffmustern, die sich auf einem Teewagen stapelten und einem breiten Zuschneidetisch. Stella wusste bereits, dass Rebekka sich hier eine Änderungsschneiderei eingerichtet hatte, der Zulauf von Kunden war noch spärlich, doch immerhin waren zwei von ihnen schon etwas wie Stammkunden und einer zahlte auch gut.
Der große Dachbodenraum war wie früher durch ein Tuch in zwei gleich große Teile geteilt, die eine Hälfte war wieder als Quartier für Stella vorgesehen. Die Tante hatte es liebevoll eingerichtet mit alten gedrechselten Möbelstücken und allem Komfort einer kleinen Wohnstube. Und die frischen weißen Bettbezüge und das weiße Laken rochen wieder einmal so rein wie ein frisch gefallener Schnee.
Für den morgigen Freitag hatte die Tante einen ganzen Katalog von Ausflugsvorschlägen. Sollte es wie heute ein sonniger Tag werden, dann bot sich eine Seilbahnfahrt an im „Schauinsland“, eine Fahrt zum Schluchsee, zum Feldberg oder zum Titisee, vielleicht auch alles zusammen. Und auch Freiburg selbst hatte seine Sehenswürdigkeiten: das Haus zum Walfisch, das Münster, die alte Wache, das Martinstor und das Schwabentor, das alte Rathaus und schließlich der Stadtgarten.
Stella spürte nur diesen Wunsch: einige Tage durch den Schwarzwald zu wandern, allein. Das auszusprechen konnte sie freilich der Tante in diesem Moment nicht antun. Und der Schwarzwald stand zuverlässig an seinem Platz. Er würde warten – auch in die kommenden Tage hinein, das war gewiss.
Am Abend des übernächsten Tages einigten sich Stella und Rebekka darauf, in eine Diskothek zu fahren. Der Onkel hatte ihnen dafür sein Auto zugesagt.
Rebekka hatte seit elf Jahren keine Diskothek mehr besucht. Zu Stellas Erstaunen kam der Vorschlag von ihr selbst, schon tags zuvor, nur locker und nebenbei, und Stella wusste nicht, ob es ernst gemeint war. Rebekka machte klar, dass sie mit ihrer Halbschwester ausgehen wollte. Ihre Zeit als „Trauerkloß“, wie sie es selbst sagte, war endgültig vorbei, das war ihr fester Entschluss.
Sie stand vor dem Kleiderschrank und drehte sich vor dem Schrankspiegel, sie toupierte sich leicht die Haare und schminkte sich, sie wechselte nochmals das Kleid, probierte verschiedene Gürtel und Ketten und wechselte auch mehrmals die Schuhe. In Rebekkas Augen lag Glanz. Ihr eher flaches, etwas knöchernes Gesicht war noch fast faltenlos, mit diesem Glanz und mit diesem Lächeln entwickelte es seinen eigenen Charme.
Bald darauf saßen sie im Auto.
Stella konnte sich an die Freiburger Diskotheken noch gut erinnern. Sie bevorzugte damals die Studentendisco „Elpi“, doch auch das „Jazzhaus“ hatte sie mehrmals besucht und auch das „Crash“.
Es gab weitere. Nur eine war auf dieser Liste ein absolutes Tabu.
Das „Elpi“ war an diesem Sonnabend hoffnungslos überfüllt, als sie sich durch die Knäuel Bauch- und Becken-schüttelnder Körper zur Theke durchgearbeitet hatten, bestellten sie einen Orangensaft, jeder schien hier jeden zu kennen und einem Neuling blieb nur das Gefühl, an diesem Ort ein Fremdkörper zu sein. Rebekka sagte, sie könne mit dieser Disco nicht warm werden, und nach einer Stunde brachen sie wieder auf.
Im „Jazzhaus“ fand eine geschlossene Vorstellung statt, es spielte dort eine kleine Band angereister Jazzkoryphäen. Auch im „Crash“ wurde live gespielt, eine noch wenig bekannte Rockgruppe war engagiert. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie einen ohrenbetäubenden Lärm produzierte. Wieder brachen Stella und Rebekka nach knapp einer Stunde auf. Blieb noch das Agar in der Löwenstraße.
Auch hier war die Tanzfläche voll und die Luft verqualmt. Doch worauf es ankam, war schließlich, ein paar „nette Typen“ aufzuspüren – „geile Typen“, wie Stella und ihre Schulfreundinnen es damals gesagt hätten, Typen jedenfalls, die in irgendeiner Art interessant waren und mehr als Bundesligatabellen und heiße Automarken im Kopf hatten.
Wieder hielten beide ihren Orangensaft in der Hand. Das Suchspiel der Blicke im dunstigen verqualmten Discolicht begann erneut.
Plötzlich zog Stella Rebekka auf die Tanzfläche. Mehrere Frauen tanzten hier als Paare. Als Paar tanzende Männer sah man nicht. Wenn die Männer tanzfaul auf ihren Hintern blieben, mussten die Frauen sich selbst helfen.
Auf einmal verlangsamten sich Stellas Bewegungen, schließlich stand sie ganz still.
Sie fühlte, wie ihr Blut in einem heftigen Aufruhr durch ihre Adern schoss. Am anderen Ende der Tanzfläche stand ein Mann mit schwarzem glänzendem Haar, den sie zu erkennen meinte.
In Sekundenschnelle rollte ein innerer Film vor ihr ab.
Ein nächtlicher Wald. Sie war benommen. Man zerrte sie aus einem Wagen. Ebenso, wie sie verschwommen wahrnahm, Rebekka; zuletzt die kleine Schwester, die zwölfjährige Lenny.
Stella sah und hörte sich schreien. Der schwarzhaarige Mann warf sich über sie. Wieder drückte er ihr jenes chloroformgetränkte Tuch ins Gesicht, ihr Widerstand blieb schwach, als er ihren Unterkörper freilegte und in sie eindrang.
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