Die Kätzchen, alle jetzt gut gesättigt, balgten im Korb und dann wieder auf ihrem Schoss, plötzlich griff sie eins und setzte es Stella aufs rechte Knie. Das Kätzchen äugte unsicher zwischen Ängstlichkeit und Neugier, dann siegte die Neugier und es begann, an Stellas Pullover hinaufzuklettern.
Die winzigen Krallen fanden gut Halt darin, Stella konnte es kaum davon ablösen, dann hielt sie es in der Hand, ein weiches warmes atmendes Bündel, in dem man jeden der kleinen Knochen spürte.
„Sie glauben nicht, wie unterschiedlich Katzen in ihrem Charakter sind,“ fuhr die Dame fort. „Manche wollen immerzu Aufmerksamkeit und sind unersättliche Schmusetiere. Andere sind Philosophen. Sie dösen vor sich hin und üblicher Weise hält man sie für träge und faul. Doch sie beobachten scharf. Sie machen sich ihre Gedanken über die Welt.“
Stella hob das Kätzchen nun sanft an die Wange, Wärme strömte mit Wärme zusammen, das Kätzchen streckte die Krallen, es war nicht sicher, ob es sich in diesem Moment um den Versuch einer kleinen Gegenwehr und Attacke handelte oder nur ein wohliges Sich-Recken ausdrückte.
„Katzen sind Charakterköpfe. Jede ist ein besonderes Individuum,“ sagte sie weiter. „Ich habe lange genug mit Katzen zu tun, um mir ein solches Urteil zu bilden.“
Eine zweite, dann eine dritte Katze fand ihren Weg auf Stellas Schoß, die Dame meinte, in Stella ein natürliches Talent zur Katenmutter zu erkennen. Stella dachte daran, dass Bauern, die mit einem solchen Wurf neuer Kätzchen ungewollt beschenkt worden waren, diese früher häufig in einen Sack packten, sie zum Bach trugen und ertränkten. Jedes dieser kleinen Knäuel war ein Wunder an Geschmeidigkeit und Possierlichkeit. Und die Natur schenkte sie oft ungefragt und im Überschuss. Doch wer war zu so etwas fähig: sie in einem Sack gefangen ertrinken zu lassen?
Stella hatte nicht reden wollen. Doch jetzt fühlte sie sich wie eingesponnen von diesem Spiel der Katzenpfoten, Katzenschnauzen und Katzenohren; die Ablenkung tat ihr gut, wie sie spürte.
„Übrigens,“ sagte die Dame jetzt, „ich habe vor zwei Tagen von Ihnen geträumt.
Das mag für Sie seltsam klingen.
Doch es ist häufig, dass ich Dinge vorausträume – nun nicht häufig, doch es geschieht dann und wann.
Ich träumte, dass Sie mir in diesem Abteil gegenübersitzen. Es war genau ihr Gesicht, ihre Frisur, ihre Kleidung.
Sie erzählten mir, dass Sie lange nicht mehr in Freiburg waren.
Sie haben im Ausland gearbeitet, sie hatten dort mit Zeitungen zu tun, wohl als Journalistin.“
Stella war verblüfft. Eine solche Information hatte sie der Frau nicht gegeben, sie konnte sich auch an keinem ihrer Gepäckstücke befinden.
„Nun – ich korrigiere es etwas:
Ich kann nicht sicher sagen, ob Sie diese Sätze gesprochen haben. Ob Sie überhaupt etwas redeten.
Es ist in Träumen oft so, dass die andere Person im eigenen Kopf spricht. Man sieht sie nur, und im selben Moment weiß man etwas von ihrer Geschichte. Sie werden dies selbst schon erlebt haben.“
„Was wussten Sie noch über mich?“ fragte Stella. „Über meine Geschichte?“
„Das ist es,“ sagte die Dame. „Ich möchte Ihnen etwas mitteilen.
Bitte verstehen Sie es nicht falsch. Ich möchte Ihnen keine Angst machen, im Gegenteil.
Doch was ich noch sah, das war dies: Dass Sie den Bahnhof nicht über den Ausgang verließen.
Sie steuerten zielstrebig auf einen Abgrund zu, der sich auf der rechten Seite befand. Dieser Abgrund, das weiß ich, war natürlich nur ein Symbol. Träume machen das, dass sie eine Umgebung plötzlich verwandeln – um damit etwas auszudrücken.
Ich will Ihnen nur freundlich sagen: Bewahren Sie eine gewisse Vorsicht. Der Abgrund faszinierte Sie. Ich rief Ihnen nach, um sie anzuhalten. Doch Sie kümmerten sich nicht darum.
Sie sollten wissen: Dieser Abgrund bedeutet eine tatsächliche Gefahr.“
Stella prüfte die Frau jetzt mit den Blicken genau. War diese Dame etwas verrückt? Zugleich sah sie doch ernsthaft besorgt aus.
Die ersten Vororte von Freuburg näherten sich.
Drei Kätzchen spielten weiter auf Stellas Schoß, auf ihrem rechten Arm, auf ihrer Schulter.
Die Dame öffnete wieder ihr Katzenalbum. Sie zeigte Stella den Katzenfriedhof in ihrem Garten.
Er gab kleine Grabsteine mit eingravierten Namen und ein kleines Medaillon mit einem Bild der Katze war davor in den Sand gedrückt. Es mussten über hundert solcher Grabsteine sein. Und alles war umgeben von langen Reihen zahlloser Blumen.
„Katzenleben sind kurz. Von all diesen Katzen wusste ich, dass ich sie einmal beerdigen werde. Und noch viele weitere werde ich sterben sehen.
Es ist traurig. Wie es dann doch wieder eine Überraschung und Wonne ist, wenn sie mir einen neuen Wurf schenken.“
Sie sammelt die drei Kätzchen jetzt behutsam von Stellas Pullover ab und senkte sie zurück in den Korb.
Der Zug hielt an diesem Vorortbahnhof und die Frau musste den Zug verlassen.
„Zergrübeln Sie sich nicht den Kopf über das, was ich Ihnen sagte. Nur tanzen Sie nicht in den Abgrund.“
„Tanzen?“ fragte Stella.
„Ja tanzen. Ich sah Sie tanzen dabei. Die Faszination des Abgrunds war groß.“
Stella war enttäuscht.
Nur die Tante stand auf dem Bahnhof, weder ihre Halbschwester Rebekka noch ihr Onkel.
Am wenigstens war es die Tante, auf deren Wiederbegegnung sie sich freute.
Trotzdem: Die Tante drückte sie herzlich an sich. Sie erklärte, Rebekka und der Onkel würden in einer Stunde nachkommen.
Dann griff sie die schwere Reisetasche, während sie Stella den Koffer mit den Bodenrollen überließ und winkte sie in das kleine Bahnhofsrestaurant.
Sie hatte es so arrangiert. Sie wollte Stella zunächst unter vier Augen sprechen.
„Stella – ich wünsche mir so sehr, dass wir uns endgültig aussöhnen. Ich gehe sogar so weit, mich bei dir zu entschuldigen.
Wenn auch du manche unfeinen Dinge damals gesagt hast.
Es war nicht fair von mir, dir anzulasten, was mit Lenny geschehen ist. Sicher, ihr beide, du und Rebekka, solltet sie wachsam im Auge behalten an diesem Abend. Sie war ja erst zwölf. - Doch was dann folgte, jenes Verbrechen, das hat keiner von euch vorausahnen können.“
Sie atmete tief.
„Ich habe dir auch vorgeworfen, was später geschah. Den Tod eurer Eltern, der mir meine jüngere geliebte Schwester wegnahm. Dabei warst du es, die gewiss am meisten gelitten hat.
Du hattest keinen Einfluss darauf, dass dein Vater nach dem grausamen Verlust von Lenny zu trinken begann. Er verwand es nie, dass sie so spurlos verschwunden blieb. Manchmal dachte ich: Dass er sich in diesem Zustand von Betrunkenheit mit deiner Mutter ans Steuer setzte – die beiden wollten es so. Sie hatten keinen Lebensmut mehr.“
Ihre Stimme versiegte. Sie hatte damals die Leichen in dem ausgebrannten Wagen identifizieren müssen. Wahrscheinlich sah sie es wieder Bild für Bild vor sich.
Sie griff vorsichtig nach Stellas Hand.
„Wir machen einen neuen Beginn.
Unsere größte Freude wäre es, und das will ich dir auch von meinem Mann sagen, wenn du wieder in Freiburg leben würdest, wenigstens in Deutschland, damit wir uns ab und zu sehen. Und die allergrößte Freude wäre dies für deine Halbschwester Rebekka.“
Sie drückte noch einmal Stellas Hand und zog ihre eigene dann wieder zurück.
„Rebekka: Das ist noch ein weiteres Thema.
Ich muss dir sagen, sie ist noch immer äußerst labil.
Ich weiß, dass ihr regelmäßig telefoniert.
Doch Rebekka spricht wenig über das, was tatsächlich vorgeht in ihr. Sie flüchtet sich lieber in Äußerlichkeiten. Sie möchte niemanden zur Last fallen.
Sie möchte nicht, dass ihre Sorgen und Ängste auch die Sorgen der anderen werden.
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