Sie folgten dem Wehrgang weiter, vorbei an den Schießscharten und kamen am Tour du Moulin á Poudre, dem Pulverturm an. Kurz danach endete der Rundgang, und sie mussten die Treppen wieder hinabsteigen. Sie spazierten zur Hauptstraße der Ville Close. Es war kein geringerer als Vauban, der die Befestigungen rund um die Altstadt angelegt hatte, sodass diese Straße seinen Namen trug. Sie war gespickt mit Souvenirläden. Es gab Geschäfte, in denen man die berühmten Ohrenbols, mit dem eigenen Vornamen beschrieben, kaufen konnte, Boutiquen mit Strickwaren der Region und zahlreiche Geschäfte, die die Spezialitäten der Bretonen verkauften, die Galettes , den Kouign Amann , die Sablés und die zahlreichen anderen biscuits . Dazwischen gab es immer wieder kleine Restaurants und Crêperien. Nancy und Paul hatten auf ihrem kleinen Spaziergang Appetit bekommen. Sie fanden eine kleine Crêperie in der Rue St-Guénolé, der Fortsetzung von dem Place St-Guénolé. Beide bestellten sich ein Crêpes-Menu, etwas, das sie noch nie gegessen hatten.
Am Nebentisch saßen zwei Männer, die sich aufgeregt unterhielten. Sie schienen nicht unbedingt die besten Freunde zu sein. Paul und Nancy achteten nicht weiter darauf. Nach einigen Minuten, sie hatten bereits ihr Essen und eine Flasche Cidre bestellt, stand Paul auf. Er wollte ein paar Erinnerungsfotos machen. Er fotografierte Nancy am Tisch. Da das Restaurant klein war, kamen auch die zwei Männer am Nebentisch mit aufs Bild. Paul setzte sich, als das Essen kam und sie ließen sich die Mahlzeit munden. Die zwei Männer hatten kurz darauf das Restaurant verlassen. Auf dem Platz vor der Crêperie schrien sie sich noch lauter an. Paul und Nancy konnten sehen, dass sie danach getrennte Wege einschlugen. Auch Paul und Nancy verweilten nicht mehr lange. Sie bezahlten ihre Crêpes und machten sich auf den Weg, den Rest der Altstadt zu durchstreifen. Am Ende der Straße kamen sie zu einem Platz mit einer Freilichtbühne. Die Sitzplätze waren, wie in einem Amphitheater, im Halbkreis um die Bühne herum errichtet. Ihr Weg führte sie danach an der Anlegestelle einer Fähre vorbei. Es war die kleinste Fähre, die sie je gesehen hatten. Sie bot vielleicht zehn oder zwölf Personen Platz und hatte gerade einmal 200 Meter Distanz zu überwinden. Sie schipperte quer über die Hafeneinfahrt, hinüber zu einem Ortsteil von Concarneau, der Passage Lanriec , wie sie ihrer kleinen Karte entnehmen konnten. Beide fanden die Fähre witzig und überlegten noch, ob sie nicht mitfahren sollten, als das kleine Boot auch schon ablegte.
„Schau, das ist doch einer der Männer, die vorhin am Nachbartisch gesessen haben.“ Paul zeigte auf den mürrisch dreinblickenden Herrn, der zu der Fähre geeilt gekommen war und jetzt mit hinüberfuhr. Auch Nancy sah dem Boot nach.
„Ja, das ist der, der vorhin am lautesten gesprochen hat. Er ist doch zum Ausgang der Altstadt gegangen. Er hat es sich wohl anders überlegt und ist umgedreht.“
Paul und Nancy dachten nicht weiter darüber nach und schlenderten weiter. Sie wollten sich später auch noch die Innenstadt von Concarneau ansehen.
Sie spazierten zurück und kamen auf der Rückseite des Restaurants zu dem kleinen Park, am hinteren Ende der Ville Close. Der Weg stieg leicht an und führte zu einer mit Bäumen gesäumten Wiese. Plötzlich blieb Nancy wie versteinert stehen. Sie streckte ihren Arm aus und zeigte in Richtung der großen Eiche, die links vor ihnen stand. Sie schien unfähig zu sein, auch nur einen Ton hervorzubringen. Jetzt sah auch Paul, was Nancy so erschreckt hatte. Vor ihnen lag ein Toter.
Ewen Kerber machte sich auf den Weg, mit Carla nach Concarneau zu fahren. Er hatte ihr versprochen, das große Fest, die Filets Bleus, zu besuchen. Die Filets Bleus wurden schon seit 1905 gefeiert. Ursprünglich war es eine Solidaritätsveranstaltung gewesen, zu Gunsten der Fischer von Concarneau, die in Not geraten waren, als aus unerklärlichen Gründen die riesigen Sardinenschwärme ausgeblieben waren. Die Bürger der Stadt verhalfen mit dem Erlös des Festes ihren Fischern zum Überleben. Den Namen hatte das Fest von den blauen Netzen erhalten, wie sie von den Fischern benutzt wurden.
Die Solidarität stand schon lange nicht mehr im Vordergrund. Heute war daraus ein Festival geworden, das das Kulturerbe der Bretagne bewahren sollte. Trachtengruppen, Musik und folkloristische Tanzgruppen prägten das Fest.
Ewen war kein großer Freund von folkloristischen Festen. Aber diesmal war Marie, Carlas Tochter, mit ihrer Tanzgruppe beteiligt. Carla hatte ihrer Tochter versprochen, dass Ewen und sie beim Schautanzen und dem großen Umzug dabei sein würden. So blieb Ewen Kerber nichts anderes übrig, als zu den Filets Bleus zu fahren.
Im Kommissariat von Quimper war es nach dem Mord an der jungen Frau Germaine Kerivel wieder ruhiger geworden. Der Fall hatte die ganze Truppe über viele Wochen in Atem gehalten.
„Bist du soweit, Liebling?“, fragte Ewen, als er schon an der Haustür stand und den Wagenschlüssel von dem kleinen Bord neben dem Spiegel genommen hatte.
„Ich komme sofort“, hörte er Carla rufen.
Die Fahrt nach Concarneau würde nicht lange dauern. Die knappen 20 Kilometer wären schnell zurückgelegt. Das größere Problem würde die Parkplatzsuche bieten. Ewen Kerber war kein Freund von öffentlichen Verkehrsmitteln. Er fuhr am liebsten mit seinem eigenen Wagen. Deshalb hatte er schon vor einigen Tagen seine Kollegen in Concarneau angerufen und gefragt, ob sie einen Stellplatz vor dem Commissariat de police erübrigen könnten. Selbstverständlich hatten sie ihm einen Platz angeboten. Das Commissariat de police in Concarneau benötigte für seine wenigen Einsatzfahrzeuge nicht alle Plätze. So war es möglich gewesen, ihm einen Parkplatz zur Verfügung zu stellen. Das Gebäude der Kollegen lag zudem gegenüber dem Festplatz. Einen besseren Parkplatz hätte er sich nicht wünschen können.
Carla kam die Treppen herunter und sie verließen ihr Haus. Sie stiegen in ihren bretonischen Wagen ein. Auch wenn Ewen nicht unbedingt der eingefleischteste Bretone war, sollte sein Auto doch aus der Bretagne kommen.
Sie erreichten das Commissariat de police am Anfang der Avenue de la Gare. Ewen stellte seinen Wagen direkt vor dem Gebäude ab. Er war noch nicht ausgestiegen, als auch schon ein Polizeibeamter auf ihn zukam.
„Sie können hier nicht parken, Monsieur, der Wagen wird sonst gleich abgeschleppt.“
Ewen Kerber nickte und stieg dennoch aus, zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und zeigte ihn dem jungen Polizisten.
„Ich habe mit Ihrem Chef bereits gesprochen. Er hat mir erlaubt, meinen Wagen für einige Stunden hier abzustellen.“
„Entschuldigen Sie, Monsieur le Commissaire, aber ich habe Sie noch nie bei uns gesehen.“
„Kein Problem, Sie machen Ihre Arbeit. Sagen Sie ihrem Chef in meinem Namen nochmals vielen Dank.“ Ewen reichte dem jungen Mann sein Visitenkärtchen und verschloss den Wagen, nachdem auch Carla ausgestiegen war.
Die Tanzaufführung, an der Marie beteiligt sein würde, fand in dem großen Zelt statt, das auf dem Gelände des Parkplatzes am Quai Carnot aufgebaut war. Sie überquerten nur die Straße und standen schon vor dem Zelt. Der Auftritt von Marie müsste gleich beginnen. Sie waren gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Ewen war ganz froh, nicht lange warten zu müssen. Die Lautstärke in dem Zelt war nichts für seine Ohren. Die Tanzdarbietung war nett, und Marie kam nach dem Auftritt zu ihnen und begrüßte sie. Obwohl das Zelt voller Menschen war, hatte sie ihre Mutter und Ewen sofort entdeckt.
„Hat es euch ein wenig gefallen?“, fragte sie, als sie bei den zweien angekommen war.
„Aber natürlich, ich habe es genossen“, sagte Carla, und Ewen stimmte ihr etwas verhalten, höflich zu. Er hätte sicherlich einen anderen Ausdruck an Stelle von genossen gewählt.
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