Er hatte Meyers beim Gespräch darauf hingewiesen, dass sie zwar eine Handtasche gefunden hätten und das Foto ziemliche Ähnlichkeit mit Samantha aufwies, aber bis zu einer Identifikation könnten sie nicht beschwören, ob es sich bei der Toten tatsächlich um Samantha handelte. Joe hatte diverse Fotos von der jungen Frau gemacht. Sie hofften, dass aufgrund der Bilder die Kowalsky's ihre Tochter identifizieren konnten.
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Melanie lag zusammengekauert auf ihrem Bett. In ihren Ohren dröhnte Musik aus dem MP3 Player. Seit Stunden starrte sie abwechslungsweise wütend und dann wieder hilflos und traurig die weisse Wand ihr gegenüber an, welche einzig mit einem Poster der britischen Band MUSE verziert war. Ihre Mutter kam in regelmässigen Abständen in ihr Zimmer und versuchte, sie zum Reden zu bringen. Doch Melanie hatte keine Lust auf endlose Gespräche und gut gemeinte Ratschläge. Sie wusste ja selbst nicht, was sie von dem allem halten sollte. Klar, sie verstand die Sorgen ihrer Mutter. Nachdem sie Melanie am Freitagabend völlig durcheinander auf der Treppe des Golfklubs vorgefunden hatte, wollte sie sofort eine Anzeige bei der Polizei gegen Randy machen. Doch Melanie hatte sie nur wütend angefaucht. "Bist Du wahnsinnig?Da hab ich gleich die ganze Schule gegen mich!", hatte sie gerufen. Sie konnte sich die dummen Sprüche bereits vorstellen. Nein, das war wirklich das Letzte, was ihr jetzt noch fehlte. Trotzdem, wenn sie die Augen schloss, wie gerade jetzt, sah sie immer wieder diesen irren Blick von Randy vor sich. Wie seine dunklen Pupillen ihr das Blut in den Adern hatten gefrieren lassen. Dann sein Biss in ihre Lippen und sein eiserner Griff um ihre Brust. Davon hatte sie ihrer Mutter wohlweislich nichts erzählt. Sie wäre ganz sicher gleich komplett ausgeflippt. Sie hatte ihr sowieso nicht viel erzählt. Nur, dass es ein bisschen ausgeartet sei.
Ihre Hand tastete ihren Mund ab. Eine kleine Kruste hatte sich gebildet. Wenn sie mit der Zunge darüber fuhr, brannte es sogar noch immer ein bisschen. Heisse Tränen liefen über ihre Wangen und sie schluchzte in ein Kissen.
Was sollte sie nur tun? Heute würde sie jedenfalls nicht zur Schule gehen. Immerhin darin waren sie und ihre Mutter sich einig gewesen. Sie würde sich sowieso nicht konzentrieren können.
In wenigen Minuten würde ihre Mutter zur Arbeit aufbrechen, dann hatte sie endlich Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Und später, heute Abend oder so, würde sie ihrer Mutter vielleicht mehr erzählen. Aber nur vielleicht. Sie prüfte bereits zum dritten Mal ob ihr Handy auch tatsächlich ausgeschaltet war und legte es weit weg von sich.
Zuerst noch ein bisschen schlafen und dann über alles gründlich nachdenken. Eine tiefe Erschöpfung überkam sie und nachdem sie die letzten Nächte kaum geschlafen hatte, fiel sie endlich in einen traumlosen, unruhigen Schlaf.
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Das Haus der Kowalsky's lag wie erwartet an bester Lage. Ein flacher, langgezogener Bungalow mit grosszügiger Auffahrt, sorgfältig manikürtem Rasen gesäumt von üppigen Rosenbüschen, von denen in dieser Jahreszeit jedoch nur wenige blühten. Vor dem Garagentor waren ein weisser Mercedes Coupé und ein Ungetüm von Range Rover parkiert bei deren Anblick Edward jeweils die Galle hoch kam. Typische Fahrzeuge von Leuten, die mit ihrem Geld protzen wollten. Er verzog sein Gesicht verächtlich zu einer Grimasse.
Sie parkierten direkt hinter dem zivilen Polizeiwagen von Jimmy Redcliff und stiegen aus. Joe klingelte und die Türe wurde wenige Sekunden später von einem Mann aufgerissen, dessen Ausstrahlung auf den ersten Blick bemerkenswert war. Hochgewachsen, stahlblaue Augen, dunkelblauer, sündhaft teurer Anzug, blütenweisses Hemd, registrierte Edward wobei sein Blick auf den stahlblauen Augen des Mannes vor ihm verweilten. Es war bemerkenswert welch eine Dominanz und Schonungslosigkeit sie auch bei einem so tragischen Ereignis wie jetzt noch zu ausstrahlen vermochten. Nur tiefe Schatten deuteten darauf hin, welch ein Grauen der Mann gerade durchlebte.
"Dr. Kowalsky", stellte sich der Mann mit passend tiefer Stimme vor, ohne ihnen die Hand zu reichen. "Bitte treten sie ein." Er trat einen Schritt zur Seite und machte den Eingang frei. "Ihre Kollegen sind im Wohnzimmer."
Edward's Blick glitt über das makellose Interieur, welches mit viel Geschmack und noch mehr Geld eingerichtet war.
"Ich hoffe, Sie können uns endlich erklären, was dies alles zu bedeuten hat. Ihre Kollegen tauchen hier auf, erzählen wirres Zeug von einer Leiche, die man gefunden hat und erschrecken meine Frau und mich beinahe zu Tode." Kowalsky versuchte, die Fassung zu wahren, doch Edward sah einen tiefen Schmerz in seinen Augen sitzen und wusste, dass der Mann vor ihm die Wahrheit bereits kannte.
"Herr Kowalsky, können Sie mir sagen, wo sich ihre Tochter Samantha gerade aufhält?", fragte Edward an den Mann gewandt.
"Nein, das kann ich nicht. Wir haben sie seit Samstag früh nichts mehr von ihr gehört."
Kowalsky wandte den Blick ab.
Edward räusperte sich. "Ich verstehe. Haben sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben?"
Wieder ein Kopfschütteln und ein Schulterzucken.
"So ungewöhnlich war das nicht. Ernsthafte Sorgen machten wir uns erst gestern Abend. Normalerweise ist Samantha an einem Sonntagabend immer zuhause. Wir telefonierten ihren Freundinnen und nachdem dies auch nichts brachte und wir Sam auf ihrem Handy nicht erreicht hatten, wollte ich gleich heute früh zur Polizei."
Obwohl das Verhalten der Kowalsky's ihm fremd und seltsam erschien, ging Edward nicht weiter darauf ein.
"Sie müssen jetzt stark sein, Herr Kowalsky, aber ich fürchte, dass es sich bei dem Mädchen um ihre Tochter handelt. "
Kowalsky schloss für einen Augenblick qualvoll die Augen, sagte jedoch kein Wort und führte Edward wenig später in das Wohnzimmer in welchem eine grosse, schlanke Frau mit hellbraunen, halblangen Haaren auf einem Sofa sass.
Auf einem einzelnen Sessel schräg gegenüber sass Lizzy, nickte ihrem Chef und Joe schweigend zu während Jimmy zu ihm trat und ein kurzer Wortwechsel stattfand. Dann trat Jimmy hinüber an die Fensterfront und lehnte sich an ein Sideboard aus Teakholz und überlies seinem Chef die weitere Führung.
"Das kann einfach nicht sein. Wer hätte ein Interesse daran, meine Tochter zu ermorden? Das alles muss ein riesiger Irrtum sein", Kowalsky's Stimme hinter ihm versagte während Edward seine Augen nicht von der Frau auf dem Sofa liess. Die Frau wirkte steif, distanziert und, das fand er besonders eigenartig, vollkommen gefasst. Keine Träne, kein Zusammenbruch, kein Aufschluchzen. Das war ungewöhnlich. Hatte Kowalsky nicht gesagt, sie wären beide zu Tode erschrocken gewesen als die Mordkommission hier aufgetaucht war?
Die Frau schien ihn kaum wahrzunehmen und so drehte er sich wieder zu Herrn Kowalsky um. Er griff nach einem grossen Plastikbeutel, in welchem sich die Handtasche befand, die sie am Tatort gefunden hatten, und hielt sie hoch. "Ist das die Tasche ihrer Tochter, Herr Kowalsky?"
Dr. Kowalsky schoss auf ihn zu und griff nach der Tasche.
"Bitte öffnen Sie den Beutel nicht", ermahnte ihn Edward. "Die Tasche muss noch von der Spurensicherung untersucht werden."
Kowalsky nickte während er die Tasche durch den Plastikbeutel musterte als hätte er noch nie so etwas gesehen. Sein Frau bewegte sich noch immer nicht, starrte jedoch ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen auf die Tasche in der Hand ihres Mannes und murmelte kaum hörbar:
"Das ist die Tasche von Samantha..."
"Wir haben sie unmittelbar neben der Leiche gefunden", begann Edward und atmete tief durch. "Ich muss sie leider bitten, sich einige Fotos anzusehen."
Edward wollte ihm Aufnahmen der Kleidungsstücke, Finger- und Ohrringe zeigen, welche zur Identifizierung dienen würden. Bilder des Körpers seiner misshandelten und ermordeten Tochter würde er dem Ehepaar jedoch wohlweislich vorenthalten. Dazu war später noch genügend Zeit. In den kühlen Räumen des Rechtsmedizinischen Institutes.
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