»Wie alt sind deine Töchter?«
»Gina ist sieben und Sabrina fünf Jahre alt.«
»Wie alt bist du Sven?«
»Ich bin sechsundzwanzig.«
»Bist du denn mittlerweile geschieden?«, fragte Pia wissbegierig.
»Nein, leider noch nicht!«, fügte Sven grimmig hinzu.
Pia sah ihm deutlich an, wie sehr ihn das alles mitnahm. Seine sanften braunen Augen sprühten vor Hass, wenn er von seiner Ehefrau sprach. Sein Gesicht wirkte hart und abweisend.
»Ich bin von meiner Frau Michaela maßlos enttäuscht. Sie hat mein Vertrauen missbraucht und mich betrogen. Als wir uns ein Haus bauen wollten, legte sie für sich ein Sparbuch an und schaffte eine Menge Geld auf die Seite. Sie sprach auch nie über Dinge, die uns beide betrafen. Stattdessen bombardierte sie mich mit Vorwürfen, wenn ich abends todmüde von der Arbeit nach Hause kam, was die Kinder wieder alles angestellt hätten. Sie verlangte von mir, dass ich meine Töchter bestrafen sollte. Tat ich das nicht, brüllte sie die beiden an, die dann anschließend weinend und verängstigt aus dem Zimmer liefen, um bei mir Schutz zu suchen. Oftmals, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam, war meine Frau gar nicht anwesend. Sie hatte die Kinder zur Oma gebracht, damit sie ihre Ruhe hatte. Es war kein Abendessen fertig, wie in früheren Zeiten. Der Kühlschrank war leer und ich war gezwungen erst einkaufen zu gehen, um uns das Abendbrot zubereiten zu können. Michaela verbrachte angeblich jede freie Minute bei einer Freundin.
Einige Monate später kam ich dahinter, dass meine Frau ein Verhältnis mit meinem ehemaligen Schulfreund hatte. Ich war über alle Maßen enttäuscht und verletzt, als ich die beiden in flagranti ertappte, weil ich früher als gewöhnlich von der Arbeit nach Hause kam. Meine Frau und ihr neuer Lover saßen im Wohnzimmer und tauschten innige Küsse aus. Ich bat Michaela wütend darum, wenigstens den Kindern zuliebe das Verhältnis zu beenden. Aber sie dachte gar nicht daran. Meinen Schulfreund habe ich rausgeschmissen und ihm Hausverbot erteilt.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, weinten die Kinder oftmals und waren unglücklich, weil sich meine Frau kaum noch um sie kümmerte. Wenn sie ihr lästig wurden, brachte sie die Kinder zur Oma.
Von mir wollte Michaela nach dem Zwischenfall überhaupt nichts mehr wissen, weder sexuell noch rein menschlich. Scheinbar war sie dem neuen Lover total verfallen. Der Zustand spitzte sich nach einigen Monaten dermaßen zu, sodass ich die Situation nervlich nicht mehr verkraften konnte. Deshalb schlug ich ihr vor, uns erst einmal räumlich zu trennen, bevor es gänzlich zu eskalieren drohte. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich vorübergehend zu meiner Mutter nach Recklinghausen-Süd ziehen würde.
Ich bat sie während meiner Abwesenheit noch einmal alles zu überdenken, in erster Linie wegen der Kinder, die unter der verfahrenen Situation am meisten zu leiden hatten.
Ich habe vorübergehend bei meiner Mutter gewohnt. In dieser Zeit hatte ich nur einmal wöchentlich telefonischen Kontakt zu meinen Töchtern. Mich schmerzte es sehr, die Kinder so lange nicht sehen zu können. Aber ich wollte meiner Frau genügend Zeit lassen, damit sie zur Vernunft kommt und unsere Ehe eventuell noch eine Chance gibt.
Aber leider war sie nach der räumlichen Trennung immer noch nicht dazu bereit, wieder mit mir zusammenzuleben und einen Neuanfang zu wagen. Offensichtlich fühlte sie sich mit ihrem Freund wohler als mit mir. Sie hatte die Zeit nicht dazu genutzt, um sich über unsere Ehe und die Kinder Gedanken zu machen, sondern vertiefte das Verhältnis zu meinem Schulfreund. Wie ich von meinen Töchtern erfuhr, wohnte er bereits mit meiner Frau zusammen und sie machten auch keinen Hehl daraus, dass sie eine Beziehung hatten.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ein Jahr später reichte ich die Scheidung ein, weil ich die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr begraben hatte. Meiner Frau kam das sehr gelegen.
Ich suchte mir in der Nähe vom Wohnort meiner Frau eine neue Bleibe. Michaela behielt fast alle Einrichtungsgegenstände, die wir uns zusammen angeschafft hatten. Mir blieb nur noch das Notwendigste. In dem Zweifamilienhaus versuchte ich mir die neue Wohnung so gemütlich wie möglich einzurichten, mit dem spärlichen Mobiliar, das mir noch verblieben war.
Ich wurde immer depressiver und zog mich mehr von der Außenwelt zurück. Mein Zorn gegen meine Frau wurde von Tag zu Tag größer. Oftmals habe ich mit dem Gedanken gespielt, sie umzubringen, aber was hätten dann die Kinder ohne ihre Mutter getan?
Ich begann zu trinken und ich griff nach einer Weile zu immer härteren Spirituosen. Durch mein unkontrolliertes Trinkverhalten musste ich kurze Zeit später den Führerschein abgeben. Infolgedessen geriet ich dermaßen tief in den Sumpf und trank ständig weiter. Ich verlor dadurch die Kontrolle über mich und den Boden unter den Füßen. Dies hatte zur Folge, dass ich nicht mehr regelmäßig zur Arbeit erschien und wenn ich kam, dann meist im angetrunkenen Zustand. Kurz darauf verlor ich auch noch die Arbeitsstelle und somit den letzten Halt, den ich im Leben hatte.
Ab diesem Zeitpunkt war alles verloren, was mir einmal sehr viel bedeutet hatte. Die Frau, die Kinder, der Arbeitsplatz und der Führerschein. Ich fing an, mich selbst zu bedauern und zog mich immer mehr in meine eigene Welt zurück. Ich ging nur noch unter Menschen, wenn mein Kühlschrank unbedingt aufgefüllt werden musste, da die Getränke zur Neige gingen. Der Alkohol stellte zu dem Zeitpunkt mein Hauptnahrungsmittel dar. Ich verlor mich immer mehr und merkte gar nicht, wie tief ich weiter von Tag zu Tag abrutschte. Ein Vierteljahr verbrachte ich in diesem Zustand, ohne mir der Situation bewusst zu werden. Ich dachte in keiner Weise daran mich um eine neue Arbeitsstelle zu bemühen, damit ich mit einer neuen Aufgabe aus diesem Desaster herauskomme. Mein Alkoholkonsum nahm erschreckend zu. Ich blieb die meiste Zeit im Bett und stand nur noch auf, um mich erneut abzufüllen. Ich befand mich in einem Wach- und Traumzustand. Ohne, dass es mir bewusst war, hatte ich den Bezug zur Realität seinerzeit vollkommen verloren.
Eines Morgens, als ich dringend etwas zu trinken benötigte, um meinen Alkoholspiegel wieder auszugleichen, warf ich einen Blick in den Spiegel, um mir die Haare zu frisieren, bevor ich das Haus verließ. Ich erschrak vor meinem eigenen Spiegelbild und zuckte regelrecht zusammen. Der Mann, der mir entgegen blickte, war nicht mehr ich. Mich sah eine aufgequollene unrasierte Fratze mit roten Kapillaren an der Nase und tiefen schwarzen Ringen unter den Augen an. Mein Haar war fettig und hing mir wirr im Gesicht. Mein Körper roch unangenehm nach Schweiß. Ich ekelte mich in dem Moment vor mir selbst und spuckte angewidert mein Spiegelbild an.
Seit diesem besagten Tag versuchte ich mein Leben, wieder in den Griff zu bekommen. Jetzt bin ich seit circa einem viertel Jahr trocken und rühre keinen Tropfen mehr an, bis zu dem Fest, an dem du mich kennengelernt hast. Ein Glas Alkohol reicht mittlerweile bei mir aus, um stockbetrunken und rückfällig zu werden. Ich hatte es gleich am selben Abend bereut, überhaupt ein Glas getrunken zu haben. Ich habe mich nun auch intensiv um eine Arbeitsstelle bemüht und erwarte jeden Tag einen Bescheid von der Firma, bei der ich mich kürzlich vorgestellt habe. So, jetzt weißt du fast alles über mich!«, sagte Sven und sah verlegen zur Seite.
Pia war sichtlich berührt und mitgenommen von seiner Geschichte, drückte mitfühlend seine Hand und strich ihm über die Wange. Sie versuchte nicht durch weitere Fragen in Sven vorzudringen, denn dann war zu befürchten, dass er die Tür endgültig hinter sich zuschlug, nachdem er sich ihr gegenüber offenbart hatte. Dazu bedurfte es einer Portion Mut, sein Leben dermaßen offen vor einer Fremden darzulegen. Sie wollte sein Vertrauen, das er offensichtlich zu ihr gefasst hatte, nicht aufs Spiel setzen. Deshalb wechselte sie geschickt das Thema, ohne zu ahnen, dass sie damit neue Wunden aufriss und fragte, warum er immer nur von seiner Mutter sprach, was denn mit seinem Vater sei.
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