»Ich muss ebenfalls gehen! Ich habe gar nicht bemerkt, dass es schon so spät ist! Meine Freunde wollen vermutlich auch gleich aufbrechen!
„Komm gut nach Hause«, sagte Pia.
»Du auch«, erwiderte er.
Wie vermutet, hatten sich ihre Freunde zwischenzeitlich am Tisch eingefunden und warteten bereits ungeduldig auf Pia und drängten zum Aufbruch. Sie bezahlte ihre Rechnung und verließ kurz darauf mit ihnen gemeinsam die Stadthalle, um sich auf den Heimweg zu begeben.
Zu Hause angekommen dachte sie über den unverschämt gut aussehenden Mann nach, der fortwährend ihre Gedanken beschäftigte. Die Chance, dass er sich noch einmal bei ihr melden würde, sah sie als höchst unwahrscheinlich an. Vermutlich hatte er ihre Visitenkarte bereits in den Papierkorb geworfen und verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sie.
Im Prinzip konnte ihr das auch egal sein. Eigentlich war sie mit ihren neunzehn Jahren überzeugter Single und wollte es auch noch eine Weile bleiben, da sie ihre persönliche Unabhängigkeit über alles liebte. Sie hatte sich vor Kurzem erst von ihrem Elternhaus losgesagt und sich auf eigene Füße gestellt. Endlich konnte sie ihr Leben so gestalten, wie sie es wollte, und war keinem mehr Rechenschaft für ihr Handeln schuldig. Auf ihre kleine Wohnung war sie mächtig stolz. Es war schließlich ihre erste eigene Bleibe.
Trotzdem bekam sie Sven Bayer nicht mehr aus dem Kopf. Gerne hätte sie die Faschingstage mit ihm verbracht.
Sie hatte die Hoffnung mittlerweile aufgegeben, dass Sven sich bei ihr melden würde. Deshalb feierte Pia die verbleibenden Faschingstage zusammen mit der Familie und ihren Freunden. Am Aschermittwoch hatte sie noch Urlaub, wie all die Jahre zuvor, um sich von der närrischen Zeit zu erholen. Am darauffolgenden Tag musste sie wieder ins Büro.
Ihr Chef hatte sie mit jeder Menge Arbeit eingedeckt. Es rächte sich stets, wenn sie sich einige Tage freigenommen hatte, dann stapelten sich nachher die Akten auf dem Schreibtisch bis zur Decke. Gänzlich in ihre Beschäftigung vertieft und vollkommen dem Bürostress erlegen, riss sie das Klingeln des Telefons aus ihren Gedanken. Verwirrt nahm sie den Hörer ab. Es war kein anderer als Sven. Überrascht und mit klopfendem Herzen starrte sie den Telefonhörer an.
»Ich habe nicht viel Zeit, habe eine Menge Arbeit zu erledigen, die während meines Urlaubs liegen geblieben ist«, entgegnete Pia mehr stammelnd als sprechend.
»Ich möchte dich gerne wiedersehen, wenn du magst!«, sagte Sven am anderen Ende der Leitung.
»Das freut mich. Wie wäre es, wenn du mich am Montag nach Feierabend um siebzehn Uhr vom Geschäft abholst, dann könnten wir anschließend zu mir fahren und ich koche uns etwas Leckeres?«, sagte Pia.
»Ja, dann bis Montag«, antwortete Sven erfreut und verabschiedete sich.
Je näher der Montag kam, desto nervöser und angespannter wurde sie. Am Samstagmorgen brachte sie ihre Wohnung auf Hochglanz und anschließend ging sie zum Einkaufen. Am Nachmittag traf sie sich mit ihrer Clique zum Bowlingspielen. Am Sonntagabend traf sie Vorbereitungen für das gemeinsame Essen mit Sven. Sie bereitete einen leckeren vegetarischen Auflauf vor, der nur noch in den Backofen geschoben werden musste. Während der Garzeit hatte sie dann genügend Zeit für Sven und brauchte sich nicht mit dem Kochen abzumühen. Sie deckte bereits am gleichen Abend liebevoll den Essenstisch mit ihrem besten Geschirr ein. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Sekt, Wein und Bier hatte sie schon kaltgestellt. Es war für alles gesorgt.
In dieser Nacht schlief sie äußerst unruhig, da sie ständig an das bevorstehende Treffen mit Sven denken musste.
Am nächsten Tag wählte Pia ihre Kleidung mit besonderer Sorgfalt aus, das tat sie zwar immer, wenn sie zur Arbeit ging. Aber heute traf sie Sven nach Feierabend, da durfte ihre Kleiderauswahl weniger konservativ ausfallen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie in einer Jeanshose und einem saloppen Pullover am Arbeitsplatz erscheinen, aber das sah ihr Chef überhaupt nicht gerne. Er verbat sich, dass die Frauen in Hosen ins Büro kamen. Er bevorzugte es, dass sich die Mitarbeiterinnen in Röcken oder einem hübschen Kleid zeigten, um die Chefetage gebührend zu repräsentieren. Die Röcke durften allerdings auch nicht zu kurz sein. Den Geschmack des Chefs zu treffen war keinesfalls einfach. Pia entschied sich für einen eng anliegenden Rock, der knapp bis über die Knie reichte. Er hatte hinten einen Schlitz und gab einen Blick auf ihre langen schlanken Beine frei. Eine türkisfarbene Seidenbluse, die wundervoll zu ihren grünen Augen passte, rundete das hübsche Gesamtbild ab. Zufrieden drehte sie sich vor dem großen Spiegel im Flur.
Selbst ihr Chef sah zweimal hin, als sie ihm am Morgen gut gelaunt den Kaffee servierte. Trotz der anerkennenden Blicke ihres Vorgesetzten und der Kollegen im Büro konnte sie ihre Unruhe, die sie erfasst hatte, kaum verbergen. Ständig sah sie auf ihre Armbanduhr. Kurz nach sechszehn Uhr lief sie nervös im Büro auf und ab. Sie blickte alle fünf Minuten aus dem Fenster zur Straße hinunter, von dem aus sie den Eingangsbereich des Bürogebäudes im Blickfeld hatte. Leider konnte sie nicht den gesamten Bereich einsehen. Als endlich ihre Arbeitszeit vorüber war, eilte sie hastig zur Damentoilette, zog mit dem Stift ihre Lippen nach, frischte ihr Make-up auf, kämmte ihr Haar, machte auf dem Absatz kehrt und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Eingangshalle.
Als sie nach draußen trat, stand Sven bereits, wie verabredet, vor dem Haupteingang und wartete auf sie. Ein zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie sah. Er winkte ihr zu, als sie das Foyer verließ. Er sah unverschämt gut aus in den verwaschenen Jeanshosen und der schwarzen Lederjacke.
»Hallo Sven, ich freue mich, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch!«, antworte er verlegen.
Er folgte ihr schweigend zum Fahrzeug und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, nachdem sie ihm die Autotür geöffnet hatte. Während der Fahrt zur Wohnung hüllte sich Sven in Schweigen. Pia gewann den Eindruck, dass Sven schüchtern und gehemmt ihr gegenüber war, da er immer verlegen zur Seite schaute, wenn sie ihm einen Seitenblick zuwarf. Das passte überhaupt nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Er wirkte vom Auftreten her eher selbstbewusst und zielstrebig.
Bei ihr zu Hause angekommen, sah er sich neugierig in ihrer Bleibe um. Nachdem er den Streifzug durch die Wohnung beendet hatte, wies sie Sven einen Sitzplatz am liebevoll gedeckten Esszimmertisch zu und verschwand sogleich in der Küche, um die vorbereitete Mahlzeit in den Backofen zu schieben.
Bis das Essen fertig war, wollte sie die Zeit dazu nutzen, um mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Sven lehnte Alkohol jedoch dankend ab, hatte aber nichts dagegen einzuwenden, dass sie sich ein Glas Wein einschenkte. Er begnügte sich mit einem Glas Mineralwasser.
Nach dem Essen begaben sie sich ins Wohnzimmer und machten es sich dort gemütlich. Langsam schien Sven lockerer zu werden. Er erzählte, dass er seit längerer Zeit das Haus nicht mehr verlassen habe. Erstaunt und fragend schaute sie ihn an, äußerte sich aber nicht dazu und wartete geduldig ab, bis er mit seiner Erzählung fortfuhr.
»Meine Ehe ist seit einiger Zeit zerrüttet. Wir sind getrennt und die Kinder leben bei meiner Frau in Recklinghausen. Ich bekomme sie kaum zu sehen, weil sie immer einen Keil dazwischen treibt!«, erwiderte Sven erbost und wurde feuerrot im Gesicht vor Zorn.
»Das sind doch auch deine Kinder«, bemerkte Pia schockiert.
»Dieses Aas, sie hat mir alles genommen. Ich hänge doch so sehr an meinen Töchtern!«
»Darfst du sie denn überhaupt nicht sehen?«, fragte Pia erstaunt.
»Das schon, aber meiner Frau war jedes Mittel Recht, dies zu verhindern. Hatte ich einen Termin zur Abholung mit ihr vereinbart, so ließ sie ihn stets platzen. Meistens fing mich meine Schwiegermutter bereits an der Haustür ab und erzählte mir irgendwelche fadenscheinigen Geschichten, warum Sabrina und Gina nicht zu Hause anzutreffen waren. Ich glaubte ihr natürlich kein einziges Wort. Das war alles erlogen und erfunden«, sagte er hasserfüllt.
Читать дальше