»Also … das, das kann ich mir gut vorstellen«, stammelte sie und setzte ihr nettestes Lächeln auf.
»Das ist schön, wir waren uns nicht ganz sicher, ob du wirklich Interesse hast. Du hast niemals etwas gesagt, was darauf schließen lassen konnte, dass du Karriere machen möchtest. Eigentlich kommt eine Beförderung auch erst nach frühestens zwei Jahren in Frage, aber du weißt ja selber, wie es bei uns zugeht. Die Arbeit wächst uns über den Kopf und gute Leute sind schwer zu bekommen. Also dann - herzlichen Glückwunsch! Ab nächstem Monat bist du Vorarbeiterin. Deinen neuen Vertrag lasse ich von der Personalabteilung fertigmachen, ich denke, spätestens übermorgen hast du ihn in den Händen.« Der Vorarbeiter lächelte Juliane an, stand auf und reichte ihr die Hand. Noch ganz benommen erhob sie sich und erwiderte seinen Händedruck.
»Vielen Dank!«
Als Juliane aus dem Raum des Vorarbeiters trat, waren alle Augen ihrer Kolleginnen auf sie gerichtet. Die drei Frauen konnten ein Grinsen nicht verbergen und Monika flüsterte ihr ins Ohr, »Heute Abend gehen die Getränke auf deine Rechnung, mein Schatz!«
In der darauffolgenden Nacht fand Juliane keinen Schlaf, so sehr hatte sie das Gespräch mit ihrer alten Lehrmeisterin bewegt. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und dachte immer wieder über das unglaubliche und völlig unerwartete Angebot nach. Niemals hatte Juliane darüber nachgedacht, was aus der kleinen Näherei werden würde, wenn ihre Eigentümerin einmal nicht mehr da sein würde. Sie konnte sich die kleinen Räume ohne die resolute Frau einfach nicht vorstellen und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. Trotzdem fand sie keine Ruhe und ihre Gedanken kreisten immer wieder um dieses Thema. Dann wurde Juliane bewusst, dass es eine große Verantwortung bedeutete, einen Laden alleine zu führen und damit selbstständig zu sein. Sicher, außer ihr hatte es bisher keine weiteren Angestellten gegeben und das war auch nicht notwendig gewesen, so gut war die Auftragslage nicht. Sie musste sich also keine Sorgen um weitere Bedienstete machen, außer für sie alleine würde der Laden nichts abwerfen müssen. Bisher hatte er das sogar für zwei geschafft, warum sollte es in Zukunft anders sein? Dann trübte ein Gedanke ihre aufkeimende Hoffnung. Ihre Chefin hatte Kinder! Sicher wussten sie noch nichts von den Überlegungen ihrer Mutter, aber was würden sie dazu sagen? Juliane setzt sich in ihrem Bett auf und schluckte schwer. Sebastian, der ältere der Geschwister, hatte einen gut bezahlten Job bei einer Bank und besuchte seine Mutter nur sehr selten in ihrem kleinen Geschäft. Er war kinderlos verheiratet und investierte, soweit Juliane wusste, sein ausgesprochen hohes Gehalt meist in ein großes Haus. Bettina, die Tochter ihrer Lehrmeisterin, war Mitte fünfzig, verheiratet und hatte einen Sohn, der sich kurz vor dem Abschluss einer Schreinerlehre befand. Sie liebte es Mutter zu sein und ging darin auf, ihre kleine Familie zu umsorgen. Mit Bettina war Juliane bisher gut ausgekommen, zumindest hatte sie sich bei den kurzen Besuchen im Laden ihrer Mutter immer sehr nett verhalten.
›Warum sollte jemand aus der Familie etwas gegen die Pläne der Mutter haben, immerhin würde der Laden in gute Hände kommen.‹ Nicht vollständig aber doch ein wenig beruhigt ließ sich Juliane wieder in die Kissen fallen. In dieser Nacht träumte sie davon, wie sie im Nachthemd durch den Laden flog.
Das Schnippen ihrer Finger ließ die entrollten Stoffbahnen ordentlich in den Regalen verschwinden. Ein Wink, und die Scheren und Maßbänder lagen feinsäuberlich an ihren Plätzen. Am nächsten Morgen musste sie plötzlich laut lachen, als ihr der Traum wieder einfiel. »Naja, solange ich damit die Kunden nicht verscheuche …«
Am Tag darauf machte sich Julianes Chefin auf zu ihrem Notar. In der Hand eine alte Aktentasche aus dunkelbraunem Leder mit einem einzelnen Schnappverschluss aus Messing. Juliane sah ihr hinterher, als sie gebückt die Straße hinunter lief, an deren Gabelung sich die Bushaltestelle befand. Sie beobachtete, wie sich die alte Frau mit einer Hand am Geländer in den Bus zog und mit der anderen die Tasche verkrampft festhielt.
»Da fährt meine Zukunft«, sagte Juliane zu sich selbst, als der Bus losfuhr. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Unsicherheit machte sie sich wieder an die Arbeit.
Gegen Abend kehrte die Lehrmeisterin zurück und war so entkräftet, dass sie sich etwas ausruhen musste. Sie legte sich ins Hinterzimmer auf ihr Bett und schlief augenblicklich ein. Juliane nahm eine Decke, breitete sie über der alten Frau aus und richtete ihr das Kopfkissen. Beim Hinausgehen warf sie noch einen kurzen Blick zurück und bemerkte das dankbare Lächeln auf dem Gesicht der Alten. Beruhigt schloss sie die Tür, beendete die täglichen Arbeiten und bereitete den Laden für den nächsten Tag vor. Gerade wollte Juliane die Ladentür abschließen, als draußen ein Wagen hielt. Mit finsterer Miene sprangen eine Frau und ein Mann aus dem Fahrzeug und kamen auf den Laden zu. Zuerst hatte Juliane sie nicht zuordnen können aber dann erkannte sie das Kleid der Frau. Es handelte sich um Julianes Entwurf und Ausführung, ein Geburtstagsgeschenk ihrer Lehrmeisterin, das Juliane für ihre Tochter hatte anfertigen dürfen.
Noch bevor Juliane in der Lage war, die Ladentür zu öffnen, hatte die Tochter den Laden erreicht und klopfte wütend gegen die Scheibe. Ihre Gesichtszüge spiegelten maßlose Wut wider. Juliane war eine derartige Aggressivität bei der Frau bisher nicht aufgefallen.
Irritiert beeilte sie sich, die Tür erneut zu entriegeln. Kaum war das geschehen, stürmte Bettina, dicht gefolgt von ihrem Mann, in den Laden. Sie baute sich mit in die Hüften gestützten Händen vor Juliane auf.
»Wie können Sie es wagen!« Es war mehr eine Anklage als eine Frage, die als Schrei ihren Mund verließ und Juliane wie eine Ohrfeige traf.
»I…, ich weiß nicht, was Sie meinen«, stammelte Juliane verstört und suchte krampfhaft nach einer Erklärung für das Verhalten ihres Gegenübers.
»Tun Sie nicht so. Sie wissen verdammt genau, worum es geht. Meine Mutter hat Sie aufgenommen, Ihnen ein Zuhause gegeben und so danken Sie es ihr.
«Aber, ich verstehe nicht.« Wie zur Unterstützung des gesagten breitete Juliane ihre Arme aus und zog die Schultern hoch. Ihre Gesichtszüge zeigten absolutes Unverständnis, gepaart mit Entsetzen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum die Tochter ihrer Lehrmeisterin sie derart angiftete. Bettinas Augen wurden schmal und ein höhnischer Ausdruck erschien auf ihrem angespannten Gesicht.
»So was von gerissen, selbst jetzt macht sie noch auf scheinheilig.« Bettinas Mann, der sich im Hintergrund gehalten hatte, schüttelte nur mit zusammengekniffenen Lippen verständnislos den Kopf.
»Das hätten wir niemals von Ihnen erwartet«, setzte er hinzu.
»Bitte erklären Sie mir doch, worum es geht, ich verstehe wirklich nicht, was ich getan haben soll.«
»Der Notar hat uns gerade davon in Kenntnis gesetzt, dass meine Mutter ihn besucht hat, um ihren Nachlass zu regeln. Wie sie sicher bereits wissen, will sie Ihnen den Laden überschreiben.«
»Ihre Mutter hat mit mir darüber gesprochen.«
»Siehst du«, Bettina drehte sich kurz zu ihrem Mann, »sie leugnet nicht einmal, davon gewusst zu haben.«
»Warum sollte sie es leugnen, genau das ist mein Wille und so wird es gemacht!« Juliane, Bettina und ihr Mann fuhren fast gleichzeitig herum. In der Tür zum Hinterzimmer stand Julianes Chefin. Wie immer war ihr Rücken leicht gebückt. Obwohl es den Anschein machte, dass sie versuchte, ihn möglichst gerade zu halten, auch wenn ihr das sicher Schmerzen bereitete.
»Mutter, wie kannst du uns das antun?« Auch diese Frage schoss Bettina, wie eine Anklage gegen ihre gebrechliche Mutter ab. »Es ist immer noch mein Haus und ich alleine entscheide, was damit geschieht. Niemand von euch hat sich in den letzten Jahren um mich gekümmert. Auf Juliane konnte ich mich immer verlassen und sie war auch da, wenn es mir schlecht ging. Wer hat euch den Kredit für das schöne Haus finanziert? Wer gab euch immer wieder Geld, wenn es knapp wurde? Und wie habt ihr es mir gedankt? Damit ist jetzt Schluss!« Sie war immer lauter geworden, aber den letzten Satz hatte sie herausgepresst. Die Greise musste sich sehr anstrengen, um auf den Beinen zu bleiben. Juliane erkannte es am Weiß ihrer Knöchel, das förmlich durch die Haut leuchtete, als sie sich am Holz des Türrahmens festkrallte. Sie bemerkte auch als Erste, dass ihre Chefin zu schwanken begann und sprang in ihre Richtung, um sie aufzufangen. Es gelang ihr gerade noch, die Frau unter den Armen zu packen, bevor ihre Beine den Dienst versagten und sie zusammenbrach.
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