»Na, hoffentlich kennt sie uns dann noch«, Sabrina zwinkerte den anderen zu und lachte. Juliane saß nur sprachlos neben ihren Kolleginnen und musste die Neuigkeit erst einmal verdauen. Sicher, sie erledigte ihre Arbeit schnell und gewissenhaft aber mit einer Beförderung hatte sie nicht gerechnet.
›Mal abwarten‹, dachte sie, ›vielleicht hat sich Monika auch nur verlesen.‹
Juliane trank nie besonders viel und an diesem Abend war sie zu aufgeregt, um sich mit den Kolleginnen auf einen langen Ausklang einzulassen. Bereits nach einem Glas Bier machte sie sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen warf sie ihre Sachen achtlos aufs Bett und zog sich die Wohlfühlklamotten über. Sie bereitete sich einen Früchtetee und setzte sich, eine Decke über die Beine geschlagen, in den Sessel am Fenster. Jetzt, alleine zuhause, stieg die Aufregung erneut in ihr empor. Sie merkte, wie sich beim Gedanken an die neue Position, die vermutlich wirklich auf sie wartete, ihr Nacken verkrampfte und sich die Schultern zusammenzogen. ›Warum bin ich nur so aufgeregt? Eine Beförderung ist etwas Gutes, es gibt keinen Grund sich so unbehaglich zu fühlen!‹ Aber gab es wirklich keinen Grund? Sicher, sie machte ihre Sache gut. Die Vorgesetzten waren zufrieden und hatten das auch des Öfteren durchblicken lassen. Juliane hatte bemerkt, dass die Vorarbeiter ständig unterbesetzt waren. Der Gedanke, dass man sie für diesen Job in Betracht ziehen könnte, war ihr allerdings nie gekommen. Der Job als Vorarbeiter würde nicht nur mehr Geld bringen, er war auch mit einer größeren Verantwortung verbunden. Sie müsste sich über die Einteilung der Arbeiter Gedanken machen und ihre Entscheidungen auch vor ihnen und den Chefs vertreten können. Was würde geschehen, wenn es zu Unzufriedenheit oder sogar Streit kam? Würde sie in der Lage sein, damit klar zukommen, über ihre bisherigen Kolleginnen zu entscheiden, auch, wenn es mal gegen deren Willen geschah?
»Jetzt mach dich nicht gleich verrückt, erst mal abwarten, vielleicht geht alles auch viel einfacher als du denkst«, versuchte Juliane sich selbst zu beruhigen. Der Tee, die Wärme und die Müdigkeit, die sich nach einem arbeitsreichen Tag schnell einstellte, taten ihr Übriges.
Juliane fühlte sich ein wenig schlapp, ein Gefühl, das sie fast jedes Mal an sich bemerkte, wenn sich abrupte Änderungen in ihrem Leben andeuteten. Meist war es nur ein Gefühl, das sich schnell wieder legte, wenn sie sich an die neuen Umstände gewöhnt hatte. Juliane merkte, wie ihr langsam die Augen zu fielen und schlurfte in Richtung Bett. Um noch einen Happen zu essen, war sie vorhin zu aufgeregt gewesen und nun viel zu müde. Morgen, nach einer erholsamen Nacht, würde alles klarer aussehen, das hoffte sie zumindest.
Die Jahre im Heim vergingen und Juliane zog sich immer weiter zurück. Auch die letzten Kontakte zerrissen und als sie die Einrichtung endlich mit achtzehn Jahren verlassen durfte, blickte die junge Frau in eine ungewisse Zukunft. Juliane war aufgeregt und überglücklich, die tristen Mauern hinter sich zu lassen aber ebenso auch unsicher und angsterfüllt. In den vorangegangenen Monaten hatte sie sich um einen Ausbildungsplatz als Näherin in einer kleinen Nähstube im Ort bemüht. Juliane war angenommen worden, aber die Unsicherheit über ihre Zukunft blieb und zerfraß jede aufkeimende Hoffnung.
Juliane hatte mit der Heimleitung abgesprochen, dass sie noch ein paar Wochen in ihrem alten Zimmer wohnen durfte. Allerdings sah sie diesen Umstand nur als Notlösung. Sie wollte so schnell wie möglich aus der Beengtheit ihres kleinen Zimmers hinaus, die schlechten Erfahrungen hinter sich lassen und selbstständig sein.
Der Beginn der Lehrzeit war einer der schönsten Abschnitte in Julianes Leben. Ihre alte Lehrmeisterin zeigte der jungen Frau alles, was sie wissen musste und noch mehr. Zwischen den beiden entstand eine innige Beziehung auf der Ebene ehrlicher Zuneigung. Die Frau, sie zählte weit über achtzig Jahre, bezeichnete Juliane öfter als ihre Tochter, was ihre leiblichen Kinder nicht allzu gerne hörten. Hinzu kam, dass Juliane eines der Hinterzimmer der Schneiderei bewohnen durfte, ohne dafür Miete zahlen zu müssen. Die Schneidermeisterin hatte es nicht übers Herz gebracht “ihrem Mädchen“, wie sie Juliane nannte, etwas von dem verdienten Geld wieder abzunehmen. Juliane liebte die Lehrmeisterin und bemühte sich, alles so gut es ging aufzunehmen, was sie ihr beibrachte. Sie wollte die alte Dame auf keinen Fall enttäuschen.
Dann standen die Prüfungen an und Juliane lernte fleißig, was ihr keine Schwierigkeiten bereitete. Als der große Tag gekommen war, zahlte sich ihr Durchhaltevermögen aus. Juliane bestand die praktische Prüfung mit einer glatten Eins und die theoretische Arbeit mit der Note zwei.
Voller Stolz zeigte sie das Abschlusszeugnis ihrer Lehrmeisterin, die anerkennend nickte und Juliane liebevoll mit dem Handrücken über die gerötete Wange strich. Insgeheim hatte die alte Frau nichts anderes erwartet, da sie wusste, wie gut Juliane mit Nadel und Faden umging.
»Warte einen Moment, ich habe etwas für dich.« Langsam wackelte sie in den Nebenraum und Julianes Aufregung wuchs noch ein wenig. Nach einer kleinen Weile kehrte sie zurück und hielt etwas, das liebevoll in Seidenpapier eingeschlagen war, in ihren Armen.
»Herzlichen Glückwunsch mein Kind! Ich hoffe es gefällt dir.« Die sonst so resolute Frau, die sich zu jeder Zeit und in jeder Situation durchzusetzen vermochte, schluckte. So hatte Juliane sie noch nie gesehen. Der Moment ging der alten Frau zu Herzen, das machte ihn für die Schülerin noch bedeutsamer und das Geschenk umso wertvoller. Mit zitternden Händen schlug Juliane das federleichte Papier vorsichtig zur Seite. Darunter zum Vorschein kam eine kunstvoll gefertigte Jacke aus feinster, cremefarbener Wolle. Sie war reich mit Blüten unterschiedlichster Art verziert. Über die gesamte Rückseite, die fast bis zu den Kniekehlen reichen musste, wanden sich Ranken in mehreren Grüntönen, deren Auswüchse ebenfalls in farbenfrohen Blüten endeten. Juliane faltete das Kunstwerk auseinander und hielt den Atem an. Sie brachte keinen Ton heraus, konnte den Blick nicht von diesem wunderbaren Geschenk nehmen. Niemals hatte sie etwas Wertvolleres besessen. Unwillkürlich dachte sie an ihre Zeit in den Kinderheimen und erschauerte.
›Damals wäre es ganz sicher jemandem gelungen, dieses traumhaft schöne Geschenk zu zerstören.‹ Für eine Sekunde verkrampfte sie ihre Finger in das Material, das sich so weich anfühlte. Dann entspannten sich Julianes Züge wieder und ein befreiendes Lächeln umspielte ihre Augen. Sie war in Sicherheit. Niemand konnte ihr hier noch etwas antun.
Die junge Frau erinnerte sich daran, dass ihre Lehrmeisterin manchmal davon erzählte, wie gerne sie früher gestrickt hatte. In jeder freien Minute hatte sie die Nadeln »fliegen lassen«, wie sie es nannte.
Während sie es erzählte, begannen ihre milchigen Augen zu glänzen. Doch dann hatte ihr die Gicht diese Freude genommen. Die Finger waren immer steifer geworden und das Stricken bereitete irgendwann solche Schmerzen, dass sie es ganz aufgegeben hatte.
»Willst du sie nicht anprobieren?« Die Lehrmeisterin hielt ihr das Kleidungsstück hin, damit Juliane hineinschlüpfen konnte. »Sie ist zum Tragen gedacht, nicht zum Ansehen.« Ein verschmitztes Lächeln ließ die Falten um ihre Augen noch etwas tiefer werden. Vorsichtig schlüpfte Juliane in das Kleidungsstück. Es schmiegte sich an ihren schlanken Körper wie eine wärmende Decke. Ehrfurchtsvoll strich sie langsam mit den Händen über die Wolle und fuhr mit den Fingerspitzen die Muster der Blüten entlang.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie. Dann, noch bevor ihre Lehrmeisterin etwas entgegnen konnte, sprang sie der alten Frau entgegen und schloss sie in ihre Arme.
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