Als Allererstes musste sie ihre Arbeitslosigkeit bei der Agentur für Arbeit melden. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen, die Auszahlung des Arbeitslosengeldes hing davon ab. Dort würde man ihr sicher auch Adressen von Arbeitgebern vermitteln, bei denen sie sich vorzustellen hatte. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie bereits mehrfach entlassen worden. Eine Frau ohne Schulabschluss hatte es nicht leicht in der Gesellschaft. Sie bekam die am schlechtesten bezahlten Arbeiten und durfte als Erste die Sachen packen, wenn die Firmen Probleme hatten. Juliane machte sich keine Hoffnungen für ihre Zukunft, sie wollte nur irgendwie durchkommen und ansonsten ihre Ruhe haben.
Am nächsten Morgen meldete sie sich arbeitslos und wie vermutet, bekam sie gleich drei Adressen von Firmen, die ungelernte Arbeiter suchten. Natürlich würde sie nur einen Hungerlohn verdienen, aber zumindest die Miete und das Nötigste zum Leben davon bezahlen können. Juliane hasste es, zu irgendwelchen Ämtern gehen zu müssen. Immer und überall war man auf das Wohlwollen des jeweiligen Bearbeiters angewiesen. Hatte der oder die einen schlechten Tag, fühlte man sich wie der letzte Dreck und war froh, wenn das Gespräch beendet war.
Wieder zuhause rief sie die Firmen an, hatte Erfolg und konnte zwei Termine für Vorstellungsgespräche auf ihrem Zettel notieren. Juliane sortierte ihre Unterlagen zusammen, die Personalchefs üblicherweise sehen wollten. Sie hatte kein Geld für schöne Hochglanzmappen und bewahrte ihre Unterlagen in einem schlichten grauen Schnellhefter auf, den sie bereits bei mehreren Vorstellungsterminen verwendet hatte. Dementsprechend benutzt sah das Utensil aus. Juliane störte es nicht, schließlich wollte sie sich nicht als Chef, sondern für einen Arbeitsplatz am Fließband bewerben.
Der erste Termin war einer von denen gewesen, die man schnell wieder vergessen wollte, die aber trotzdem vorkamen. Juliane war pünktlich erschienen aber man hatte sie fast eine Stunde lang warten lassen. Eine Besprechung hatte sich verschoben und so waren alle nachfolgenden Termine nach hinten gerutscht, wie die Dame am Empfang ihr erklärt hatte. Inzwischen hatten sich neben Juliane noch drei weitere Bewerber eingefunden. Die vier Kandidaten wurden in ein Zimmer geführt, in dem sie warten sollten, bis man sie einzeln zum Gespräch rufen würde. Währenddessen sah sich Juliane die Mitbewerber an und versuchte herauszufinden, welcher von ihnen die größten Chancen hatte, den Job zu bekommen. Auf den Stühlen neben ihr saßen zwei Frauen in Julianes Alter und ein jugendlich wirkender Mann um die zwanzig. Er kaute mit offenem Mund auf seinem Kaugummi herum und schmatzte, was das Zeug hielt. Seine zerschlissenen Jeans wiesen an den Knien große Löcher auf, durch die Ansätze von muskulösen Oberschenkeln zu erkennen waren. Juliane hatte keine gute Erziehung genossen und wäre sicher bei einem Benimmkurs mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Bei dem Gedanken daran, wie der junge Mann vor einem Personalchef bestehen wollte, musste sie unwillkürlich lächeln.
Eine der beiden Frauen erinnerte sie an eine graue Maus, sie hatte verlegen die Hände im Schoß zusammengelegt und hielt den Kopf leicht gesenkt. Die andere hatte sich herausgeputzt und war darauf bedacht, so viel Fleisch wie möglich ans Licht zu bringen. Ihre blonde Mähne und die falschen Wimpern konnten allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass sie auf die vierzig zuging. Ihre besten Jahre hatte sie bereits hinter sich gelassen. Allerdings durfte man nicht vergessen, dass sie aufgrund ihres Alters, sicher einige Berufserfahrung vorweisen konnte. Sicher sein, das Gespräch erfolgreich zu beenden, konnte man nie, es kam immer darauf an, ob man den Erwartungen des Gegenübers entsprach. Schließlich wurde “das Model“ als Erste zum Gespräch gerufen. Gekonnt erhob sich die Frau mit einer verführerischen Drehung ihres Hinterteiles und stolzierte an den anderen vorbei durch die Tür. Juliane verdrehte die Augen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nach weiteren zwanzig Minuten wurde sie als Nächste zum Gespräch gebeten. Zügig stand sie auf, schritt durch den Raum, ohne die anderen zu beachten und öffnete die Tür, hinter der das Vorstellungsgespräch stattfinden sollte.
Hinter einem Tisch saßen zwei Schlipsträger in ihren grauen Anzügen und musterten Juliane beim Eintreten. Ihr entgingen nicht die abschätzenden Blicke der beiden, die den Körper der attraktiven Frau interessiert musterten. Auch ihre Reize waren unverkennbar, nur hatte Juliane es nicht nötig, sie jedem unter die Nase zu halten.
Das Mädchen hatte seine Sachen ausgepackt und in die dafür vorgesehenen Fächer des Schranks einsortiert. Als die Erzieherin ihr das versprochene Essen brachte, saß sie, mit ausgebreitetem Faltblatt der Einrichtung in den Händen, auf ihrem Bett.
»Ah, wie ich sehe, bist du dabei die Vorschriften zu studieren, sehr gut! Du wirst sehen, es lässt sich hier gut leben, wenn man sich daran hält. Wie ich gehört habe, ist dies die fünfte Einrichtung, in der du untergebracht bist. Bisher soll es Schwierigkeiten mit den anderen Bewohnern gegeben haben. Das sollte in unserem Haus nicht passieren. Hier haben wir scharfe Regeln, was das Miteinander angeht. Jeder, der sie missachtet, wird eine Zeit lang isoliert. Das hat bisher gereicht, um auch die aufrührerischsten Individuen zur Vernunft zu bringen.« Um ihrem Vortrag den nötigen Nachdruck zu verleihen, presste sie ihre Lippen zusammen, zog die Augenbrauen in die Höhe und schob das Kinn vor. Juliane kannte Frauen ihres Schlages. Sie wollten von vornherein klarstellen, wer das Sagen hatte. Es nicht darauf ankommen lassen, dass ein Neuzugang auf die Idee kam, die Grenzen auszuloten. Nicht, dass Juliane die geringste Lust dazu verspürt hätte. Sie brauchte nur eines – ihre Ruhe.
Später nahm sie den Plan des Gebäudes und trat hinaus auf den Gang. Juliane wollte sich einen Überblick verschaffen, sich orientieren. Morgen würde sie den Weg zum Speisesaal finden müssen. Es war immer das Beste, wenn man ohne fremde Hilfe zurechtkam. Die Hilfe von anderen anzunehmen bedeutete, in ihrer Schuld zu stehen. Irgendwann würde diese Schuld eingefordert werden. Diese Lektion hatte Juliane in den vorherigen Heimen gelernt. Sie schlenderte durch die Gänge, warf flüchtige Blicke hinter Zimmertüren und in Gemeinschaftsräume.
Aus einem der Räume schallte weithin hörbares Johlen. Rhythmisches Klick-Klack verriet, was gespielt wurde. Im Vorbeigehen spähte Juliane durch die halboffene Tür in den Raum. In der Mitte stand eine Tischtennisplatte, an der sechs Jungen und Mädchen zusammenspielten. Auf jeder Seite der Platte standen drei Spieler. Der Aufschläger spielte den Ball auf die andere Seite.
Danach lief er ihm rasch hinterher, um sich gegenüber erneut einzureihen. So entwickelte sich ein Rundlauf. Jeder durfte mitspielen, bis er den Ball verfehlte oder die federleichte Kugel aus Zelluloid an der Tischplatte vorbei flog. Danach schlug der nächste Spieler auf. Der Ablauf wiederholte sich, bis nur noch zwei übrig waren. Diese beiden spielten dann um den Sieg. Eines der Kinder hatte Juliane entdeckt und winkte sie ins Zimmer.
»Los mach mit, wir brauchen noch einen Mitspieler!« Juliane schüttelte den Kopf, drehte sich um und schlenderte weiter. Tischtennis war eines der Spiele, das ihr keinen Spaß machte. Entweder schlug sie am Ball vorbei oder traf ihn so unglücklich, dass er die Platte verfehlte. Spiele wie Tischtennis und Federball, für die man eine ausgezeichnete Hand-Auge-Koordination benötigte, lagen Juliane nicht. Sie kehrte auf ihr Zimmer zurück und legte sich hin. Dann fiel ihr Blick auf das zweite Bett.
›Hoffentlich habe ich noch lange meine Ruhe‹, dachte sie. Juliane drehte sich zur Wand, umfasste ihre Knie mit den Armen und schloss die Augen. Die Blicke der beiden Jungen waren ihr nicht entgangen. Sie ahnte, was auf sie zukommen würde und bereitet sich innerlich darauf vor. Es war jedes Mal dasselbe. Man brachte sie in ein anderes Heim, weil Juliane im vorherigen nicht mit den Kindern klargekommen war. Niemand hinterfragte, woran das lag. Es war ihr vierter Wechsel, Juliane hoffte, dass es der letzte bliebe.
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