„Was zu trinken?“, fragte Anja Herlof und hielt eine Wasserflasche hoch. Sie hatte sich auf das Eckteil des Sofas geworfen.
Milena schüttelte den Kopf und setzte sich in einen Sessel. „Nein, danke.“
Anja Herlof goss sich ein Glas voll, stellte die Flasche neben den Tisch auf den Boden und zog die Füße hoch. Sie begutachtete stirnrunzelnd ihre Fingernägel. „Muss wohl noch mal von vorn anfangen“, seufzte sie und griff nach dem Nagellackentferner. „Was ist mit Mathias?“
„Ist Ihre Tochter auch da?“
Anja Herlof schüttelte den Kopf. „Mit ihrem Onkel auf der Kerb. Bad Nauheim.“ Sie nahm einen dicken Wattebausch aus einer Tüte und schraubte die kleine Flasche auf. Sie goss ein wenig Flüssigkeit auf die Watte und begann, den Lack abzureiben. „Warum?“
Milena faltete ihre Hände. Sie war also mit der Witwe allein. Gut so! Wie würde sie reagieren? Bittere Tränen vergießen? Oder gefasst die Nachricht aufnehmen? Vielleicht sogar froh sein? Milena hatte gleich nach dem Abitur mit der Ausbildung bei der Kriminalpolizei begonnen und war somit schon über zehn Jahre „im Geschäft“. Aber Todesnachrichten zu überbringen, gehörten bei ihr nicht zur Routine.
„Frau Herlof, Ihrem Mann ist im Wald oben beim Winterstein ein Unglück geschehen“, begann sie vorsichtig.
Anja schnaubte. „Im Wald? Sind Sie sicher? Mathias geht zu McDoof oder an die nächste Tanke, aber nicht in den Wald.“ Sie nahm erneut den Nagellackentferner, stoppte in der Bewegung und blickte auf. „Noch nicht mal zum Pilzesammeln, obwohl er sie gerne gegessen hat. In Massen, nicht in Maßen.“ Ihr Grinsen entblößte eine Reihe von strahlend weißen Zähnen.
„Ihr Mann ist tot“, sagte Milena mit schärferer Stimme als beabsichtigt.
Die kleine Flasche fiel der Frau aus den Händen und der Inhalt ergoss sich auf den schäbigen Teppich unter dem Couchtisch. Anja Herlof schien es nicht zu bemerken, sie saß kerzengerade und mit offenem Mund da und starrte auf ihre unlackierten Nägel.
Milena sprang hoch und hob das Fläschchen auf. Sie erklärte kurz, was die Polizei vermutete.
„Er ist gestürzt?“, hauchte Anja Herlof.
Es klingt nicht traurig, dachte Milena. Es klingt verwirrt und gleichzeitig erleichtert, als ob sie noch nicht an eine Zukunft ohne Mathias Bauer glauben kann. Milena wusste aus ihrer Recherche: Es existierte kein Testament. Somit würde Anja Herlof zusammen mit ihrer Tochter alles erben, was es zu erben gab.
„Höchstwahrscheinlich. Aber wir können nicht ausschließen, dass jemand nachgeholfen hat.“
***
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Mathias tot aufgefunden worden ist.“
Ute Bauer schaute Jan mit aufgerissenen Augen an, räusperte sich kurz, danach glich ihr Gesicht wieder einer unbeweglichen Maske. Martin Bauer hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt, als Jan zu ihm blickte, nahm er sie weg, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die feuchten Augen. Das Ehepaar saß auf dem kleinen Sofa, Jan war stehen geblieben.
Laura war nicht mehr im Raum. Ulrich Bauer hatte dem Mädchen seine Hand hingehalten. „Komm, wir gehen in die Küche und essen ein paar von den leckeren Waffeln, die wir auf der Kerb gekauft haben.“ Er hatte sich um einen leichten Tonfall bemüht. Mit einem letzten neugierigen Blick auf Jan hatte sich Laura widerstandslos von ihrem Onkel aus dem Raum führen lassen. „Ich werde mich später mit Ihnen unterhalten“, hatte Jan ihm hinterhergerufen.
Ute Bauer ergriff die linke Hand ihres Mannes und strich über die dünnen Knöchel. Sie hatte Tränen in den Augen. „Man geht immer davon aus, dass man zuerst geht“, sagte sie. „Mathias war fettleibig. Der Arzt sagte, wenn er nichts dagegen unternimmt, dann wird es bald aus sein. Mit seinem Herzen, seinem Kreislauf. Hat sein Tod damit zu tun?“
„Er ist offensichtlich beim Wandern gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.“
Beide Bauers blickten ihn fassungslos an.
Ute Bauer fand als Erste ihre Sprache wieder.
„Wandern?“, presste sie hervor. „Das glaub ich nicht. Er hat sich nicht mehr für Sport interessiert. Es wurde ja auch immer schwieriger, so fett, wie er war.“
„Er war auf dem Weg vom oder zum Winterstein. Wir wissen noch nicht, ob er aus Versehen oder mit Absicht gestürzt ist.“
„Mit Absicht?“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Sie meinen Selbstmord?“
„Kann sein.“ Merkwürdig, dachte Jan. Sie scheint damit gerechnet zu haben, dass ihr Sohn einen Kollaps erleidet und stirbt. Dass er seinem Leben selbst ein Ende setzt, will sie nicht glauben. Als ob ein tödlicher Unfall für sie akzeptabel, Selbstmord aber unverzeihlich wäre. „Aber wir denken bei Absicht eher an Totschlag oder an Mord.“
„Mord?“, hauchte sie. Sie ließ die Hand ihres Mannes los und stand auf. „Die Schlampe hat damit zu tun.“
„Welche Schlampe?“
„Na, die Nutte, die er geheiratet hat.“
„Ute, bitte!“, sagte Martin Bauer leise.
„Schon gut.“ Mit verschränkten Armen ging sie ein paar Schritte hin und her. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber ich will nichts verschweigen. Ich habe kein gutes Verhältnis zu meiner Schwiegertochter.“
Jan nickte, wenn auch nicht aus Verständnis. Unwillkommene Schwiegertöchter gab es in vielen Familien. Großmutter Sielau nannte die ihre selten beim Namen. Elvira war „deine Mutter“ oder einfach nur „die“. Doch „Nutte“? Ute Bauer hatte wohl mehr als „kein gutes Verhältnis“ zu Anja Herlof.
„Sie hat mir meinen Sohn entfremdet“, bestätigte sie Jans Gedanken. „Mathias stand ganz unter ihrem Pantoffel. Hat kaum noch mit uns geredet. Sie wollte das so. Ihr Wunsch war ihm Befehl. Und dann war mit einem Mal alles aus. Mathias hat sehr gelitten, als die Ehe in die Brüche ging. Da war es aber bereits zu spät für uns.“ Sie schaute Jan direkt in die Augen. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. „Diese Person hat meinen Jungen erst ausgenutzt und ihn dann wegen eines anderen verlassen. Es hat ihn umgebracht, sie hat ihn umgebracht. Mit ihrer Herzlosigkeit.“
***
„Er hätte mehr aus sich machen können“, sagte Clemens Sänger, der Inhaber von „CS Computer Security“. „Bauer hätte nicht ewig Informatikassistent bleiben müssen.“
Vor einer halben Stunde hatte Hauptkommissar Alexander Wege sein Auto auf dem Besucherparkplatz des Eschborner Bürohochhauses abgestellt, wo die kleine Computerfirma einige Räume im dritten Stock belegte. Ein Bürokomplex nach dem anderen reihte sich die Straße entlang. Zusammen bildeten sie eine Schlucht aus Glas, Beton und Stahl. Er befand sich im Gewerbegebiet Eschborn, das Ausweichquartier für Unternehmen, denen die Frankfurter Gewerbesteuer zu hoch geworden waren. Ein trister, nüchterner Ort gleich neben dem Autobahndreieck, ohne nennenswerte Gastronomie, ohne städtisches Ambiente, dafür aber bequem zu erreichen.
„CS Computer Security“ bot kundenbasierte Lösungen für die Sicherheit und Überwachung von IT-Systemen an. Das Firmenlogo stellte eine Mauer aus Computerchips dar, an der Viren abprallten. „Ihre Sicherheit ist unser Ziel!“
Nun saß Alexander Wege im Konferenzzimmer und starrte auf den überdimensionalen Bildschirm an der Wand. Sänger befand sich auf Geschäftsreise und hatte auf einer Direktschaltung in ein Hotel am Persischen Golf bestanden. Es hatte eine Weile gedauert, bis diese zustande gekommen war, und die Übertragung funktionierte nicht besonders gut. Sänger erklärte das mit den schlechten Wetterverhältnissen in Katar. Da ist wohl eher die Technik noch nicht ganz ausgereift, korrigierte Alex ihn stumm.
„Hatten Sie den Eindruck, dass Herrn Bauer in letzter Zeit etwas belastet hat?“ Er sprach mit dem Abteilungsleiter David Balzer, Bauers direktem Vorgesetztem, der neben ihm saß und ab und zu an der Falte seiner teuren Anzughose zupfte. Bei Alex’ Worten schreckte er hoch.
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