„Man müsste eher sagen, dass der Finanzkapitalismus die Menschen verblödet hat. Was machen die jungen Leute in ihrer Freizeit, wer liest noch ein Buch oder geht ins Konzert?“, antwortete Paul schließlich.
6. Kapitel
Cèret ist das Zentrum des Vallespir. Wenn man auf der D 115 von Le Boulou kommend die Stadt erreicht, sieht man drei Brücken, weshalb auch viele sagen, dass Cèret die Stadt der drei Brücken sei.
Über die mittlere Brücke führt der Straßenverkehr. Linker Hand befindet sich - nur für Fußgänger - die Teufelsbrücke „ le Pont du Diable “ aus dem 14. Jahrhundert und rechter Hand eine nicht mehr stabil wirkende Eisenbahnbrücke.
Im oberen Teil der Stadt gibt es einen großen Parkplatz, der in den Sommermonaten und an Samstagen, den Markttagen, hoffnungslos überfüllt ist.
Cèret ist eine Kleinstadt mit circa 8.000 Einwohnern. Im Sommer und Herbst besuchen Tausende von Touristen diese durch ihr Museum für moderne Kunst, „ Musée d' Art moderne “, europaweit bekannt gewordene Stadt.
Nur die Bildungstouristen wissen, dass das Museum 1950 von dem Maler Pierre Bruno gegründet wurde und heute mehr als 50 Werke von den bedeutendsten Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse, Marc Chagall, Joan Miró und vielen anderen modernen Künstlern zeigt. Zunächst war die Ausstellung in den Räumen des alten Gefängnisses untergebracht. Am 17.12.1993 wurde dann das heutige moderne Ausstellungsgebäude eröffnet.
Die meisten Touristen allerdings flanieren unter den hohen Platanen vom Parkplatz kommend über den „ Place de la République “ zum „ Place de la Liberté “ und zurück. Wenn sie auf dem „ Place des Neuf Jets “ oder dem „ Place Picasso “ vor der Bar „ Le Pablo “ einen Kaffee oder einen Rotwein getrunken haben, behaupten sie, Cèret zu kennen und schon dort gewesen zu sein.
Die „belesenen Touristen“ wissen auch noch, dass Cèret ein Zentrum des Kirschenanbaus ist und dass es im Juli eine feria mit Stierkampf gibt.
Im Winter ist Cèret trostlos, feucht und ungemütlich kalt. Man trifft in den Kneipen nur noch die cérétans , wie die Einheimischen heißen oder sich selbst nennen.
Paul besuchte ab und zu den samstäglichen Markt, weil er dort frisches Gemüse und wunderbaren Ziegenkäse kaufen konnte.
Bei einem dieser Besuche wurde er von einem deutschen Ehepaar angesprochen. Es war nicht zu überhören, dass diese beiden aus Ostdeutschland kamen. Nicht unbedingt der Dialekt, sondern die Art sich auszudrücken und die Lautstärke ihrer Unterhaltung waren das Erkennungsmerkmal. Auch die Kleidung verriet sie.
Sie waren offensichtlich froh, einen deutschen Landsmann getroffen zu haben und ließen Paul nicht mehr weg, so sehr er sich auch mühte.
Im „ Café de Paris “ erfuhr er, dass beide sich mit Hilfe von Verwandten in Cèret ein Stadthaus gekauft haben. Die Verwandten hätten schnell den Kontakt abgebrochen und die beiden, Franz und Renate, lebten kontakt- und hilflos hier in Cèret.
Weil beide kein Französisch sprechen würden, sei alles kompliziert. Zum Glück spreche eine Angestellte der Bank etwas Deutsch, sodass es insoweit keine Probleme gäbe, erklärte Franz und Renate fügte hinzu, dass sie aber im Supermarkt recht gut zurechtkämen.
Es dauerte nur wenige Tage und Paul wurde zum Essen bei den beiden eingeladen. Renate würde zu Hause kochen. Da könne er wieder einmal richtig deutsch essen, sagten beide hocherfreut, weil er die Einladung nicht ausgeschlagen hatte.
Paul merkte bald, dass Franz und Renate nicht über eine besonders hohe Intelligenz verfügten. In ihrer Hilflosigkeit waren sie auch noch anstrengend und besuchten ihn ohne Einladung oder vorherige Ankündigung.
Paul, der von Natur aus hilfsbereit war, konnte sich der beiden nicht erwehren und fügte sich schließlich in sein Schicksal, was dazu führte, dass sie ihn fast täglich unangemeldet besuchten.
Henri hingegen zeigte beiden seine Missachtung deutlich, indem er sich in ihrer Gegenwart weigerte, deutsch zu sprechen. Nur wenn er sich über sie lustig machen wollte, sprach er einige Worte Deutsch, die auch manchmal bösartig waren.
Paul staunte immer, dass ein Priester so ungeduldig und grob sein konnte.
Franz und Renate sprachen jeden mit „Du“ an, was Henri nicht ertragen konnte, und dies den beiden dadurch zeigte, dass er betont „Sie“ zu ihnen sagte.
Wenn es irgendwie möglich war, mied er ein Zusammensein mit diesen Barbaren, wie er sie nannte.
Einmal sagte er sogar: „Die sind so blöd, dass die Schweine sie beißen, wenn sie durch den Kuhstall gehen.“
Auf Nachfrage erklärte er, dass sein Deutschlehrer in der Schule diesen Satz immer gebraucht hätte, wenn er sich über einen der Schüler besonders aufgeregt hatte. Obwohl er anfangs den Sinn nicht verstanden habe, hätte er sich diesen Satz gut gemerkt.
Paul musste auf die préfecture in Céret, die verwaltungsmäßig auch für St. Génis zuständig war. Nach einer telefonischen Auskunft war der günstigste Tag ein Dienstag.
Er rief Henri an und fragte, ob sich beide nach seinem Behördenbesuch auf einen kleinen Roten in Céret treffen wollten.
Dieser war einverstanden und sie verabredeten sich für den Nachmittag so gegen 15 Uhr im „ Café de France “.
Als Paul den Telefonhörer aufgelegt hatte, rief Franz an und kündigte seinen Besuch für Dienstag an. Obwohl er mit seiner Frau kommen wollte, war er sofort einverstanden, ebenfalls am Dienstag ohne Renate im „ Café de France “ zu erscheinen.
Am Dienstag fuhr Paul so gegen 13.30 Uhr zu Hause los. Gleich neben der préfecture lag der boulodrome mit einem großen schattigen Parkplatz. Von dort aus ist es auch nicht weit bis zum „ Café de France “. Er hatte Glück und fand auch sofort einen Parkplatz. Ungewöhnlich pünktlich um 14 Uhr öffnete die préfecture und er wurde gleich bedient, sodass noch genügend Zeit war, dem Boule-Spiel zuzusehen.
Um den Spielplatz herum standen zahlreiche Bänke. Auf der Seite der „ Avenue Clèmenceau “ waren die Bänke so aufgestellt, dass die Lehnen zum Spielplatz zeigten. Wenn man sich normal auf eine dieser aus zwei Betonplatten bestehende Bank setzte, konnte man das Spiel nicht beobachten. Trotzdem saßen auf diesen Bänken die älteren Männer - Frauen sind selten unter den Zuschauern anzutreffen - so, dass sie das Spiel beobachten konnten, also verkehrt herum und stützten die Armen und den Oberkörper auf die Lehne.
Paul fand ein freies Plätzchen, stieß sich aber das Knie beim Setzen derart, dass ihm fast die Tränen kamen.
Im ausgeprägtesten Catalanisch sagte sein Nachbar: „Bist ein Tourist, we .“ Paul tat so, als hätte er ihn nicht verstanden. Zum einen schmerzte sein Knie. Zum anderen hatte es keinen Sinn, sich mit einem Catalanen zu unterhalten, der kein Französisch sprechen will, weil man ihn ohnehin kaum verstehen kann.
„ We, we “, antwortete Paul nur, obwohl er bis heute noch nicht in Erfahrung bringen konnte, wie man diese südliche Bejahung schreibt.
Paul fand das „Klick-Klack“ der Kugeln in den Händen der Spieler faszinierend. Auch die Wichtigtuerei beim Wurfansatz war bemerkenswert. Und wenn der Wurf in die berühmte Hose gegangen war, wand und gebärdete sich der Spieler, als sei die gesamte andere Welt an seinem Missgeschick schuld oder die Kugel sei versehentlich aus der Hand gerutscht. Dabei diskutierten die Mitspieler ebenfalls mit großer Anteilnahme das Missgeschick des Werfers und so war es für ihn wieder erträglich.
„Erstaunlich, wie ausgewachsene Männer sich so ihre Zeit vertreiben. Aber das kann man nur verstehen, wenn man hier aufgewachsen ist“, überlegte Paul.
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