Er atmet tief durch und schmettert: »Da-Da-Da-Daa-Daa-Daaa-dadadadadadadadadadada-Daaa-Da!«
Ich drehe meinen Becher auf dem Sims hin und her, führe ihn zum Mund, vergesse jedoch, zu trinken und setze ihn wieder ab. Anita klappert verlegen mit ihrer Wechselkasse.
»Kann sein. Hab da glaub ich mal vor Jahren so eine CD-Box beim Rossmann gekauft.«
»Musik«, grinst Holm-Rüdiger Andersen. »Ist meine, ich sag mal, große Leidenschaft. Ob Sie's glauben oder nicht, ich hab sogar mal Kirchenmusik studiert in Heidelberg. Bis meine Faszination für Wirtschaft und Zahlen mich dazu bewog, abzubrechen und auf BWL umzusteigen.«
Er nippt an seinem Becher und inhaliert die Forstbadfrühe. Glänzend betrachtet er die fern rauschenden Schwimmbecken. Er lächelt leise in sich hinein und seufzt: »Irgendwie leben wir doch alle in mehreren Welten zugleich, oder Herr Freiwaldt?«
»So was in der Art erzählt mir meine Freundin auch immer«, antworte ich und versuche, nicht zu unwirsch zu klingen.
»Ah, die Psychologin«, freut sich Holm-Rüdiger Andersen und fügt auf meinen verdutzen Blick hinzu: »Ach, das weiß ich von Frau Sarge-Albenbrecht, die hat mich ja ein wenig zu Ihrer Person gebrieft vorher.«
Verdammt, Tante Heidi! Inwieweit mein Privatleben mit dieser ganzen Geschichte zu tun hat, muss sie mir bei Gelegenheit mal erklären. Was sie sicher nicht können und wollen wird.
»Also, um genau zu sein studiert sie noch. In Bremen«, erkläre ich und gebe mir alle Mühe, Anitas hämisches Grinsen zu ignorieren. Das wird mir jetzt aber zu blöd hier! Entschlossen schnappe ich mir meinen Becher und richte mich straff auf, voller als Tatendrang verkleideten Fluchtimpulses.
»Na, äh, wollen wir dann, Herr Andersen? Dann mach's mal gut, Anita und lass dir die Zeit nicht zu lang werden.«
Ohne mich einer Antwort zu würdigen, widmet sie sich der Kontrolle ihres museal eisernen Kartenspenders und gleicht den Zählerstand auf den bunt daraus ragenden Zungen der Rollenbilletts mit dem Endstand auf der Abrechnung vom Vorabend ab. Ihr Pfeifen verfolgt uns auf unserem Weg Richtung Nichtschwimmerbecken.
Paganini. So ein Quatsch.
»Ganz schön rustikales Kassensystem, was Sie da noch betreiben, Herr Freiwaldt«, stellt Holm-Rüdiger Andersen in neutralem Tonfall fest. »Um nicht zu sagen antik. So ganz ohne PC und Kartendrucker, alles noch mit diesen alten Papptickets und per Hand.«
»Funktioniert aber sehr gut.«
Ich denke an den alten Klamm, der sich stets mit der apokalyptischen Wut eines belagerten Dachses gegen die Einführung eines Computer gesteuerten Kassensystems gewehrt hatte.
»Je weniger Arbeitsschritte, desto weniger potentielle Fehlerquellen. Keine Softwareabstürze, keine Lizenzen für die Technik, keine Wartung und man muss keine Angst vor Stromausfällen haben.« Habe ich irgendein Klamm-Zitat vergessen? Ich erwidere den Gruß vom Gummi-Nolte, dem pensionierten Sportlehrer der Grundschule, der selbst mit siebzig noch mehr federnden Schwung im Gang hat als ich, trotz all meiner Schwimmerei, so ein Arsch.
»Außerdem haben unsere Leute gerne was in der Hand«, füge ich albernerweise hinzu als wir vor dem ersten Durchschreitebecken stehen bleiben, das die Wiese vom Umgang des Nichtschwimmerbeckens trennt.
Im schlürfend ablaufenden Wasser wirbelt Viktor, ohne aufzusehen, in viel zu großen schwarzen Gummistiefeln mit dem Schrubber und schäumt die knöchelhohen Schmutzränder an den Seitenfliesen ein. Speckiges Grau rinnt in den Abfluss und alles wird wieder himmelblau. Viktor, der junge Frühlingsgott. Eingerahmt von den sich wohlwollend über ihn neigenden Kaltwasserduschen ist er ganz vertieft in sein hygienisches Werk. Er stellt Eimer und Schrubber beiseite, lassot seinen festen roten Schlauch zu sich und schnappt die Steckkupplung an den Wasserhahn.
»Moin Viktor!« rufe ich, bevor er den Hahn aufdrehen kann und er springt doch tatsächlich einen halben Meter in die Höhe, ringt um Balance im flachen seifigen Fußbassin. Sein Mund mahlt erschrocken auf und zu. Er sieht mich an, als habe ich ihn dazu aufgefordert, sofort alles von sich zu werfen und sich nackt mit Caruso im Schlammcatchen zu messen. Sein Rehblick irrt verzweifelt von Hahn zu Seifeneimer zu Schlauch zu mir. Wie immer möchte ich ihn umarmen und schütteln. Viktor, den Stillen, den Fleißigen, den Traurigen, der sich in jede Arbeit mit dem Eifer des pathologisch Schüchternen stürzt, auf der ewigen Suche nach geschäftiger Unsichtbarkeit. Ein bleiern zwinkernder Schweißtropfen rinnt aus seiner dunkelblonden Riesenkinderfrisur. Ich erinnere mich, wie ich, kurz nachdem er vor zwei Jahren seine Ausbildung im Forstbad begonnen hatte, neben ihm im Aufsichtsturm saß, das Wasser im Freibad kochte vor Ferienfleisch, und ihm, nachdem er eine geschlagene halbe Stunde weder ein Wort gesagt noch sich großartig bewegt hatte, mit ausgestellt professionellem Gestus ans Handgelenk griff und dabei auf meine Armbanduhr sah. Und ihm, als er sich irgendwann endlich traute, zu fragen, was ich da eigentlich tat, zur Antwort gab, dass ich nur mal überprüfen wollte, ob er noch unter den Lebenden weilte. Ich schäme mich heute noch angesichts seiner stummen tiefen Verletztheit. Genau das war die Scheiße, unter der er sein Leben lang in der Schule zu leiden gehabt hatte, und ich tunkte ihn kopfüber in einen ganzen Kübel davon. Noch dazu in einem neuen Lebensabschnitt, einer Umgebung, die ihm Schutzraum bieten sollte und die Möglichkeit zu lernen und zu wachsen, den Mist von früher hinter sich zu lassen und neu oder zumindest mehr zu werden. Seitdem versuche ich alles, um Viktors Vertrauen zurückzugewinnen und ihn, wo immer es geht, zu schützen, vor gedankenlosen Arschlöchern wie mir. Dieser Urschmerz. Ich kenne ihn doch selbst, glaube ich, so ähnlich. Obwohl, nee...
»Moin, Flex«, sagt Viktor leise in Holm-Rüdiger Andersens Richtung.
»Herr Andersen«, mache ich auf jovial. »Darf ich ihnen unseren Auszubildenden vorstellen? Herr von Avenhoff.«
Viktor erwidert Holm-Rüdiger Andersens munteren Gruß mit einem Zwischending aus Kopfnicken und Zusammenzucken und fummelt hilflos an der Gardenadüse seines Schlauches herum. Viehisch schmatzend saugt der Abfluss den letzten Rest Schmutzwassers aus dem Becken, eine Schaumkrone tanzt darauf von bräunlichen, früh verstorbenen Kiefernnadeln geziert.
»Herr von Avenhoff...«, sage ich, trete näher an den Rand des Durchschreitebeckens und lege dem armenViktor meine ungeübte Chefhand auf die Schulter. Ich rutsche fast auf einer Seifenlache aus. Viktor stützt mich kraftvoll am Unterarm. Etwas Kaffee schwappt aus meinem Becher, tropft auf die Fliesen und vermengt sich mit Seife, Sand und Fettrückständen zu einem reigenden Bernsteinwirbel.
»Herr von Avenhoff ist im dritten Lehrjahr«, fahre ich fort und lächle gönnerhaft in den unglücklichen Viktor hinein. »Kurz vor der Abschlussprüfung, also. Und, ganz ehrlich, eine echte Zierde des Berufsstandes. Genau solche Leute braucht man, um erfolgreich ein Schwimmbad zu betreiben und ich werde alles dafür tun, dass Herr von Avenhoff nach seiner Ausbildung übernommen wird.«
Wenn es dann noch ein Schwimmbad in Schweigen gibt, das ihn übernehmen kann, füge ich in Gedanken hinzu. Holm-Rüdiger Andersen wechselt seinen Becher von einer Hand in die andere, trinkt einen knappen Schluck und mustert Viktor von oben bis unten.
»Mensch, Herr von Avenhoff«, sagt er in bewunderndem Ton. »Sind Sie Turner? Geräteturner vielleicht?«
Viktor schreit stumm um Hilfe. Ängstlich zerkaut er seine Unterlippe. Sein T-Shirt klebt ihm am Leib wie eine Plazenta.
»Äh, nee«, näselt er. »Wieso?«
»Na, weil Sie den Körperbau dafür haben«, weist Holm-Rüdiger Andersen mit seinem Kaffeebecher grob in Viktors Richtung. »Vor allem obenherum. Trizeps, Bizeps, Schultern und Brust. Mein lieber Scholli!«
Читать дальше