Ulf Imwiehe
Gut Nass
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Ulf Imwiehe Gut Nass Dieses ebook wurde erstellt bei
Montag: Evolution
Montag: Signale
Dienstag: Unruhe gleich Energie
Dienstag: Der Ruf des Nestes
Mittwoch: Aufsicht und besondere Aufgaben
Mittwoch: Nastrovje
Donnerstag: Situationsanalyse
Donnerstag: Vertrauensfrage
Freitag: Ganz schön bitter
Samstag: Unser kleines Leben
Samstag: Gut Nass
Sonntag: Im verbotenen Garten
Montag: Perspektiven
Montag: Utopia Forest
Dienstag: Ein Gefühl von Fallen
Dienstag: Linsen
Dienstag: Dinner der gebrochenen Herzen
Mittwoch: Absolutes Commitment
Mittwoch: Ein guter Eindruck muss schon sein
Donnerstag: Forstbad 21
Freitag: Zum Geburtstag
Freitag: Phönix
Samstag: Abwehrreaktionen
Sonntag: Initiative
Sonntag: Was uns verbindet
Montag: Ein Akt der Befreiung...
Montag: ...ein Akt der Gewalt
Impressum neobooks
Ich weiß alles. Ich komm nur meistens nicht drauf.
»Tot?«
Ich verspüre abwechselnd den Drang, zu lachen, zu husten, vielleicht fassungslos den Kopf zu schütteln. Etwas Angemessenes. Ich tue nichts von alledem. Stattdessen suche ich nach der Pointe, nach irgendetwas Verräterischem in Bürgermeister Marthers Verhalten, diesem freundlichen, verlegenen Säugling. So ein treues Gesicht, alles rund und sanft und glatt. So weiches, bleiches Haar, ganz fein und luftig und doch immer streng gescheitelt. Man will es streicheln, dieses Haar, sich drin vergraben und Schutz suchen. Es ist das einzig sirenenhafte an diesem nüchternen Mann, diesem hochprofessionellen Verwalter, der stets den Tränen nah scheint.
Er nickt gewichtig.
»Gestern. Stromschlag. Zack! Beim Heimwerken, wenn ich das richtig verstanden habe. Auf jeden Fall ist es wohl bei ihm zu Hause passiert. Ganz genau weiß ich das nicht, hab auch erst heute morgen davon erfahren. War ja noch ganz hysterisch, seine Frau...«
»Witwe«, unterbricht ihn Tante Heidi, die jeder so nennt, natürlich nur hinter ihrem Rücken oder, offen, auf Betriebsausflügen und dergleichen, unter dem Schutz der Promille. Sie ist es, die mich vor einer Stunde angerufen und zum außerordentlichen Krisengespräch ins Rathaus bestellt hat. An meinem ersten freien Tag seit zwei Wochen! Selbstverständlich, ohne mir zu verraten, worum es eigentlich geht, so wie es ihr Prinzip ist. Wer auch immer diese Frau vor, wie sie gerne betont, fast zwanzig Jahren zur Personalchefin der Gemeinde Schweigen gemacht hat, war entweder mit ihr verwandt, total verzweifelt oder hatte einen diabolischen Humor.
»Natürlich, Frau Sarge-Albenbrecht, natürlich. Witwe.«
Bürgermeister Marther fummelt an seiner Krawatte herum, die sich mit seinem üblichen Sherlock-Holmes-haften Sakko zu einem farbarmen Einsatzanzug vereint. Beige-graue Dezenz, die auch sein Büro bestimmt, seinen akkurat aufgeräumten Schreibtisch mit dem Panoramafenster im Rücken, das über den winzigen, spätsommerlichen Schweigener Bürgerpark hinausblickt, dahinter rostziegelig und von Chromadern durchwirkt, die Gebäude von Schlüters Schokoladenfabrik, Keimzelle und Herz des Ortes. Die Touristen lieben diesen Geruch, der Tag und Nacht über Schweigen liegt. Weihnachtsbäckerei. Fett. Trost. Und überall Wald. Wald, Wald, Wald.
»Ja, äh, und jetzt?«
Ich war schon eloquenter, zugegeben, aber meine Frage muss wohl irgendetwas auslösen. Tante Heidi zuckt auf ihrem Stuhl neben mir zusammen, reißt sich die Brille herunter und kaut auf dem Bügel herum, als wäre sie plötzlich dem Hungertod nahe. Sie starrt mich an, knabbert, nuckelt und gibt kaum wahrnehmbare frierende Laute von sich, wie eine Grippekranke, die sich in den Schlaf schluchzt. Sie wechselt einen Blick mit Bürgermeister Marther, der nervös die Maus seines PCs hin und her schubst. Durch die Tür zum Vorzimmer von Bürgermeister Marthers Büro höre ich gedämpfte Stimmen, gefolgt vom Gelächter seiner Sekretärin. Ich komme mir ein wenig grotesk vor, in meinen schlotterigen Sportklamotten, aber was holen die mich auch direkt vom Fahrrad hierher?
»Wir haben uns gedacht...«, sagt Bürgermeister Marther.
»Im Angesicht der...«, sagt Tante Heidi.
Höfliches Gegrinse. Bürgermeister Marther weist ein wenig gönnerhaft und irgendwie sehr erleichtert wirkend auf Tante Heidi, die sich entschlossen die Brille wieder aufsetzt.
»Im Angesicht der Tragödie, die uns alle so unvorbereitet getroffen hat, erkennen wir, also Herr Bürgermeister Marther und ich, aber ich denke, ich spreche auch für die Gemeinde Schweigen an sich, bei allem Schmerz, die Notwendigkeit, zusammenzuhalten und ein gemeinsames Ziel im Blick zu haben. Eine Herausforderung. Jeder Rückschlag, ist eine Herausforderung.«
Oha, jetzt läuft sie sich warm.
»Weißt du, Felix, wenn es eines gibt, dass ich in all meinen Dienstjahren gelernt habe, und ich habe einiges erlebt und gesehen, kann ich dir sagen, also, wenn ich eines gelernt habe, dann das: Manchmal wird ein Kapitel im Buch des Lebens aufgeschlagen, das man nicht sofort versteht. Weil man es nicht lesen kann, weil einem die Vokabeln fehlen oder was weiß ich, ist ja auch egal. Also, Rätsel. Kann man ruhig davor stehen wie der, wie geht denn noch diese Sprichwort da, das mit dem Ochsen...? Jedenfalls darf man auch mal sagen, ich verstehe das nicht. Ist doch keine Schande! Wer weiß schon alles? Eben, keiner! Aber man muss den Mut haben, zu fragen. Oder aber wissen, wo das Wörterbuch steht. Das Lexikon. Oder ihr jungen Leute heute mit eurem Wiki-Dings und Google und wie das alles heißt. Ist doch alles da! Alles, was einem mitgegeben wird, zum Beispiel in der Berufsausbildung, das muss man als Rüstzeug begreifen, als Fundus, vor allem für die Momente, wenn es eng wird, kniffelig...«
»Um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt«, fällt Bürgermeister Marther ihr ins Wort und vergisst wie jedes Mal, wenn er ungeduldig wird, das R zu rollen. Vielleicht fragt er sich gerade, wie ich auch, ob Tante Heidi langsam senil wird. »Also, um es sozusagen auf den Punkt zu bringen, es ist so, dass Frau Sarge-Albenbrecht und ich beschlossen haben, sie mit sofortiger Wirkung zum Betriebsleiter des Forstbades zu ernennen. Als Nachfolger von Herrn Klamm.«
Ich starre ihn an. Starre über seine Schulter in den Schweigener Himmel. Starre in Tante Heidis Milde. Brennt da was in meinem Bauch?
»Ja, aber, dienstältester Schwimmmeister ist doch Herr Teller. Ich meine, ist das nicht ein bisschen überstürzt?«
Tante Heidi nimmt die Brille ab und sieht mich ich an, als wäre ich irgendsoein misshandeltes Wesen aus einer dieser schlechten Reality-Shows. So ein ruiniertes Ding, das sie liebend gern aus seinem Elend heraus adoptieren würde, aber, ach, die Umstände, die Finanzen, die Vernunft.
»Felix«, sagt sie und mir fällt auf, dass Tante Heidi, abgesehen von Maike und dem Mann, aber an den will ich jetzt besser nicht denken (zu spät!), die einzige Person in ganz Schweigen ist, die mich bei meinem richtigen Vornamen nennt. »Hör mal, Felix. Jetzt hör mal zu. Ich kann gut verstehen, dass dich Hans-Herrmanns Tod belastet. Sieh uns doch an! Uns geht’s doch nicht anders. Schrecklich, ganz furchtbar. Und seine arme Frau erst.«
»Witwe«, sagt Bürgermeister Marther. Tante Heidi blinzelt, nuckelt, Bürgermeister Marther beugt sich vor, fixiert mich und faltet die Hände auf seinem Schreibtisch. Komisch, mir ist noch nie aufgefallen, dass er einen Ehering trägt.
Читать дальше