»In diesem Sinne, einen angenehmen Arbeitstag noch Ihnen allen.«
Das Team presst sich aus dem Raum. Caruso drückt mir im Vorbeigehen sanft die Schulter und murmelt grinsend: »Chapeau.«
Ich sehe ihm nach, taumle ratlos in mir herum und bemerke Bürgermeister Marther und Holm-Rüdiger Andersen neben mir. Tante Heidi steht in der Tür, dreht sich zu uns um und haucht: »Evolution...«
»Herr Freiwaldt«, sagt Bürgermeister Marther dienstlich. »Auf ein Wort in Ihrem Büro, bitte?«
Ich kann mich nicht erinnern, Bürgermeister Marther jemals so richtig außer sich erlebt zu haben. Gut, als ich in der Ausbildung mal beim Chlorflaschenwechsel aus Versehen einen Chlorgasausbruch ausgelöst hatte und das vollbesetzte Hallenbad evakuiert werden musste, da ist er dann doch mal ein bisschen energisch geworden. Hauptsächlich allerdings, weil ich beim Wechsel entgegen jeder Sicherheitsvorschrift keine Atemschutzmaske getragen hatte und nur durch schieres Trottelglück nicht verletzt wurde. Und überhaupt war es eigentlich der alte Klamm, der den richtigen Anschiss kassierte, als mein Ausbilder und Chef. Aber was solche Dinge anging, teilte Klamm nur zu gerne mit seinen Unterlingen und ich hatte derbe zu büßen. Nie waren die Bodeneinläufe draußen im Sprungbecken so sauber, wie in den folgenden Wochen. Na ja, war ein gutes Training, in vier Meter Tiefe mit der Bürste herumzuschrubben. Ohne Pressluftflaschen natürlich. Sollte ich vielleicht mal wieder machen. Tauchen ist ja seit jeher mein Schwachpunkt. Da kriege ich immer Panik, wahrscheinlich wegen dem Krupphusten, den ich als Kind mal hatte oder was das war. Ja, der alte Klamm konnte ausrasten, dass einem der Kittel brannte. Bürgermeister Marther ist für derlei emotionale Ausbrüche zu kontrolliert.
Dachte ich.
Ich lehne an Klamms, nein, an meinem Schreibtisch, Holm-Rüdiger Andersen steht mit dem Rücken zur verschlossenen Tür, Tante Heidi sitzt zusammengesackt im einzigen Besucherstuhl und all drei schleudern wir die Köpfe hin und her, folgen Bürgermeister Marther, der wie von einem Moskitoschwarm verfolgt durchs Büro hetzt und schweißgebadet über Diskretion doziert, über Vertrauensbruch und die Sucht nach Tratsch und Gerüchten verflucht, die er für die Geißel Schweigens hält. Immer wieder sticht sein Finger vor meinem Gesicht herum, harpuniert meine halbherzigen Ausflüchte. Wenn er jemals rausfindet, dass Caruso das alles von mir weiß, schreit er, obwohl, womöglich war es doch einer aus dem Gemeinderat, der nicht dichthalten konnte, und überhaupt, was denn bloß in den Kerl gefahren ist?
Wenn ich das wüsste. Caruso. Manchmal kommt es über ihn. Dann packt ihn diese kindlich destruktive Lust am Aufruhr und es wird ihm ganz experimentell zumute, wie er es ausdrückt. Caruso, dieser Irre. Manchmal frage ich mich ernsthaft, was uns eigentlich verbindet? Auf welchem Fundament unsere Freundschaft ruht? Maike nannte es einmal eine Mischung aus irrationaler Zuneigung, Gewohnheit, Mitleid, Einsamkeit und entsprechender Verzweiflung. Eine Schicksalsgemeinschaft in Shorts und Flip-Flops. Ich weiß ja nicht, diese Psychologen...
»Ich glaube, es wäre ganz klug, einmal die positiven Seiten dieser, ich sag mal, Episode, zu betrachten«, nutzt Holm-Rüdiger Andersen eine Atempause Bürgermeister Marthers, der erst überrascht erlahmt, sich dann fleischig neben mir gegen den Schreibtisch lehnt und zwei- dreimal seufzt. Er sieht Holm-Rüdiger Andersen nach Erlösung dürstend an.
»Und welche positiven Seiten wären das wohl?« fragt Bürgermeister Marther. »Etwa, dass ich zum ersten Mal seit Jahren, ach, Jahrzehnten erleben durfte, dass Herrn Tellers Wortschatz mehr Begriffe umfasst als Ja, Nein und Moin?«
»Schönen Feierabend, nicht zu vergessen«, ergänze ich leise.
»Genau!« kollert Tante Heidi. »Und der Klassiker: Mir doch egal.«
Holm-Rüdiger Andersen stimmt nicht in die simulierte Heiterkeit ein. Er schreitet effektiv auf und ab, legt sein iPad auf den Schreibtisch und platziert sich dann strategisch genau in der Mitte des Raumes unter dem Oberlicht, aufrecht schlank wie ein Degen. Seine Blumenkohlfrisur schimmert kostbar und gepflegt.
»Erstens«, sagt er und breitet offerierend die schmalen, langen Hände aus. »Erstens hat das Team Gelegenheit erhalten, sowohl den Wechsel in der Führungsebene des Bades, als auch die Ankündigung der Situationsanalyse und aller damit verbundenen Gefühlswallungen und Unsicherheiten, ich sag mal, kathartisch zu verarbeiten. Da ist erst mal einigermaßen der Druck vom Kessel, so etwas ist nicht zu unterschätzen, wenn man das Feld ebnen will für Neues.«
»Sehe ich ganz genau so«, werfe ich ein, bevor ich mich zurückhalten kann und klaube aus Gesprächen mit Maike aufgeschnapptes Halbwissen zusammen. »Man muss den Leuten die Möglichkeit geben, ihre Befindlichkeiten auszuagieren, wenn man sie für sich gewinnen will. Also, vor allem als Überbringer von potentiell verunsichernden Nachrichten, der genau auf diese Leute in Zukunft angewiesen ist.«
Holm-Rüdiger Andersen wirft mir einen wachen Jägerblick zu, seine Augen strahlen grau-grün.
»Exakt, Herr Freiwaldt, exakt! Gleichzeitig haben wir, durch die unfreiwillige Mithilfe von Herrn Balthasar, das Bewusstsein für die, ich sag mal, Unwägbarkeiten geschärft, die das Berufsleben in der modernen Welt so für Einen bereit halten kann.«
»Na, jetzt wird’s aber interessant«, schnauft Tante Heidi und wiegt sich suchend umher. »Ist noch Konfekt da, Felix?«
»Nebenan«, nuschele ich oder denke ich und sie fließt stöhnend zurück in ihren Stuhl.
»Doch, doch«, lacht Holm-Rüdiger Andersen fast. Er steckt eine Hand in die Tasche seiner eleganten Anthrazithose und hält uns die andere entgegen, wie eine sich öffnende Blüte der Weisheit.
»Unverständnis plus Unsicherheit gleich Unruhe.«
Holm-Rüdiger Andersens Finger imitieren ein kaskadierendes Feuerwerk.
»Das kann man wohl sagen«, knurrt Bürgermeister Marther und glüht mir seinen Blick auf die Wange.
»Unruhe gleich Energie«, fährt Holm-Rüdiger Andersen begeistert fort. »Und genau diese Energie müssen wir kanalisieren. Ganz wertneutral. Zielorientiert. Im Sinne des Projekts.«
»Gruppendynamik«, stammele ich. »Zusammenhalt.«
»Teamwork!« ruft Holm-Rüdiger Andersen. »Basierend auf einer gemeinsamen Vision. Die, wiederum sich speist aus dem geteilten Verständnis für die, ich sag mal, vermeintliche Unsicherheit des Status Quo.«
»Oho!« macht Tante Heidi.
Bürgermeister Marther spielt an seiner Armbanduhr herum.
Holm-Rüdiger Andersen blinzelt elektrisch um sich.
»Genau! Die Frage danach, ob das, was mir über Jahre sicher und vertraut war, auch noch morgen seine Gültigkeit hat, also, die daraus resultierende, ich sag mal, Ungewissheit, Kribbligkeit, ist wie ein Reaktor voller Kreativität, den man nur zu bedienen wissen muss und es wird einem nie an Energie und Möglichkeiten mangeln.«
Er stellt sich kontrolliert leger mit beiden Händen in den Taschen hin.
»Und genau das hat Herr Freiwaldt uns heute aufs Brillianteste demonstriert. Personalführung in Reinkultur!«
Meint der mich?
Bürgermeister Marther seziert mich skeptisch.
»Hm, hat er das? Können Sie das mal näher erläutern, Herr Andersen?« bittet er.
»Den durch Herrn Balthasar gesetzten Impuls aufzunehmen, die resultierende Aufregung zuzulassen und zu kanalisieren, durch Nüchternheit und Sachlichkeit auf gleichzeitig verständnisvolle und kollegiale Art das Team beruhigen, sich dann zielsicher mit Herrn Teller den richtigen Verbündeten mit der nötigen Autorität und Akzeptanz innerhalb der Gruppe auszusuchen und auf seine Seite zu ziehen, zum Zwecke der Glaubwürdigkeit. Diesen Verbündeten dann die Wogen glätten zu lassen und so alle Unruhe zu bündeln und in, ich sag mal, trotzige Tatkraft umzuwidmen... ich kann nur sagen, Hut ab, Herr Freiwaldt!«
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